Gesammelte Werke. Aristoteles
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Da aber der Mensch von Natur in staatlicher Gemeinschaft lebt und seine Bestimmung nur in ihr und durch sie erreicht, so behandelt Aristoteles die Tugendlehre als einen Teil der Staatslehre. Der Staat hat die Aufgabe, die Bürger glücklich zu machen, indem er sie zur Tugend anhält und anleitet, und so ist das Ziel des Einzelnen von dem Staatsziel wie das Besondere und Untergeordnete von dem Allgemeinen und Höheren umschlossen.
Die Tugendlehre des Aristoteles hat verschiedene Eigentümlichkeiten, die mit ihrer Unterordnung unter die Staatslehre mehr oder minder zusammenhängen.
Vor allem versteht Aristoteles unter jener Glückseligkeit, die das Ziel der Tugend ist, ausschließlich die diesseitige und irdische und läßt die jenseitige außer Betracht. Dies ist nicht so zu erklären, als kenne er kein anderes Leben. Weiß man doch, daß er gleich seinem großen Vorgänger Plato die Unsterblichkeit der Seele lehrt. Vielmehr kommt jenes daher, daß er die Glückseligkeit des Einzelnen im Zusammenhang mit dem Staatszweck betrachtet. Der Staat aber ist eine Einrichtung, die nur dem Diesseits angehört und darum auch nur irdisches Wohl verfolgen kann.
Aristoteles scheint ferner die Tugend zur Glückseligkeit in das Verhältnis des Mittels zum Zweck zu stellen, und doch ist sie auch ihrer selbstwegen liebenswert, und wer sich um sie nur deshalb bemühte, weil sie uns glücklich macht, verfiele dadurch einer Art von Egoismus. Aber es ist zweierlei, zu sagen, daß die Tugend glücklich macht, und zu sagen, daß damit ihr Wert erschöpft ist, und man nur deshalb nach ihr streben soll. Das erste hat Aristoteles gesagt und stark betont, und dazu wurde er wieder durch die ihm eigentümliche Verbindung der Ethik mit der Politik veranlaßt. Die Politik verfolgt das Glück der Staatsangehörigen, und so kam er wie von selbst dazu, auch bei dem Einzelnen, das eudämonistische Moment in den Vordergrund zu stellen. Dabei ist er aber gewiß weit davon entfernt, einem einseitigen Eudämonismus das Wort zu reden. Er sagt vielmehr ausdrücklich, daß man um jeden Preis, auch den des Lebens, an der Tugend halten, und daß man lieber die größten Qualen leiden müßte als schimpflichen Zumutungen nachgeben; vgl. III, 1; 3. Absatz. Wenn ihm daneben die Glückseligkeit oder auch die Lust das höchste Gut sind, so könnte man ja meinen, damit wäre der Tugend der zweite Rang angewiesen, sie solle Mittel, jene beiden aber Zweck sein. Allein einmal sagt er das nirgendwo, und er scheint nach X, 5, Absatz 1 fast absichtlich das Rangverhältnis zwischen Tugend und Lust unentschieden zu lassen. Sodann wird die Rangfrage bei ihm so zu sagen gegenstandslos, insofern ihm Tugend und Glückseligkeit völlig gleich und von einander untrennbar sind. Er sagt ja nicht blos, daß die Tugend zur Glückseligkeit führe, sondern noch öfter sagt er, daß sie oder die tugendgemäße Tätigkeit die Glückseligkeit sei. Es ist aber auch wohl zu bemerken, daß es nicht verkehrt und nicht tadelnswert ist, wenn man die Tugend um der Glückseligkeit willen liebt, die man durch sie erlangt. Tugendhaft sein um des Lohnes willen, mag nicht der höchste Grad der Tugend sein, aber ein Grad ist es immerhin, und auch der Beste braucht sich der Rücksicht und der Hoffnung auf den Lohn, als wäre das unmoralisch, nicht zu entschlagen. Es ist eine gefährliche Übertreibung, eine Sittlichkeit, die auf den Lohn blickt, als Pseudomoral zu bezeichnen. Wäre sie das, was wäre dann die Moral des Christentums, wie sie z. B. von dem Stifter unseres Glaubens in den acht Seligkeiten vorgetragen wird?
Noch ein Drittes ist der aristotelischen Tugendlehre eigentümlich und kann auffallen und befremden. Sie schweigt gänzlich von dem Willen Gottes, der doch mit Recht als das oberste Moralgesetz gilt. Man kann dieses Schweigen nicht daraus erklären, daß die sittlichen Gesetze und Forderungen innerlich notwendig sind, indem sie auf der Natur der Dinge beruhen und aus ihr abgeleitet werden können, so daß es für die sittliche Erkenntnis nichts weiter bedürfte als eines richtigen Urteils über das natürliche Verhältnis, in dem die Dinge zu einander stehen. Denn ein solches Urteil kann uns nur versichern, daß etwas zum Sittengesetze gehört, aber nicht darüber belehren, was überhaupt der Grund und das Wesen der sittlichen Verpflichtung ist; das ist es aber, was man von einer wissenschaftlichen Sittenlehre verlangt. Die Natur der Dinge lehrt z. B., daß man die Sinnlichkeit bezähmen, nicht stehlen, nicht lügen, daß man die Eltern ehren soll, aber darum wissen wir noch nicht, warum uns diese Regeln die in ihrer Art so ganz eigentümliche sittliche Verpflichtung auferlegen, von wem sie im letzten Grunde kommen, und wem wir für die Beobachtung derselben verantwortlich sind. Alle diese Fragen lassen sich ohne Bezugnahme auf den Willen und das Gebot Gottes nicht beantworten. Nur aus dem Willen Gottes entspringt sittliche Verpflichtung, und wenn dieser göttliche Wille als Grund des natürlichen Sittengesetzes auch nicht frei ist, sondern notwendig aus der Heiligkeit und Weisheit Gottes hervorgeht, so daß er überall stillschweigend hinter den sittlichen Forderungen steht, so kann doch von sittlicher Erkenntnis und Handlung nur da die Rede sein, wo von dem sittlichen Subjekt nicht blos der materielle Inhalt des Sittengesetzes, sondern auch der Wille Gottes als die Quelle des Gesetzes erkannt ist. Wir möchten darum glauben, daß Aristoteles nicht deshalb vom Willen Gottes als Grund und Norm der Sittlichkeit geschwiegen hat, weil derselbe seinem Gegenstande nach mit den natürlichen Forderungen der Vernunft und dem inneren Gesetze der Dinge zusammenfällt, sondern aus einem anderen Grunde, darum nämlich, weil es seine Absicht nicht war, eine wissenschaftliche Theorie der Moral zu schreiben. Seine Ethik ist ein populärer Traktat mit einer unmittelbar praktischen Bestimmung; sie ist, wir müssen es auch hier wieder sagen, ein Stück Staatslehre und muß sich darum in den Rahmen dieser Bestimmung fügen. Das könnte sie aber nicht, wenn sie es unternähme, die Sittlichkeit aus ihren letzten Gründen abzuleiten. Denn allerdings ist diese eine Sache, die an sich mit dem Staate nicht notwendig zu tun hat. Ihr Platz ist überall gegeben, wo ein vernünftiges Geschöpf frei handelnd auftritt. Dies möchte also die Erklärung für das Schweigen sein, mit dem Aristoteles in diesem Werke an den letzten Fragen der Moral vorübergeht. Ihn unter die Vertreter der religionslosen Moral zu rechnen, hat man kein Recht.
Gehen wir nun weiter und erklären wir, wie Aristoteles seine Lehre, daß die Tugend und die tugendgemäße Tätigkeit das Ziel des Menschen ist und ihn wahrhaft glücklich macht, durchführt.
Er zeigt zunächst, daß das Ziel des Menschen nicht in Sinnengenuss, in eitler Ehre oder in irdischem Besitze, sondern in menschenwürdiger Tätigkeit besteht. Für alles, was eine Tätigkeit und Verrichtung hat, liegt das Gute und Vollkommene in der Tätigkeit. Die Dinge haben eine erste Vollkommenheit auf grund ihrer Natur, ihrer Wesensform, eine zweite und höhere auf grund ihrer Tätigkeit. Durch diese wird alles Gute, was sie der Anlage nach haben, zur Entfaltung gebracht und in die Wirklichkeit überführt. Die bloße Anlage ohne die Tätigkeit ist unfruchtbar und liegt gleichsam im Schlafe. Dies wird also auch für den Menschen gelten: auch ihm wird die Vollendung aus der Tätigkeit erwachsen.
Aber es fragt sich, aus welcher Tätigkeit. Ohne Zweifel aus derjenigen, die ihm als Mensch eigentümlich ist und ihn von anderem Tätigen unterscheidet. Das ist eben die tugendgemäße Tätigkeit. Die vitalen oder vegetativen Funktionen hat er mit den Pflanzen, die sensitiven mit den Tieren gemein, nur die tugendgemäße Tätigkeit, als Funktion des vernünftigen Seelenteils in ihm, hat er allein zu eigen. Sie ist Tätigkeit der Vernunft und des Willens, nur daß sie in rechter Weise, nach der Norm der Sittlichkeit, geschieht. Die tugendgemäße Tätigkeit vollendet also den Menschen und macht ihn glücklich, und wenn es der Tugenden mehrere gibt, so wird es vor allem die der besten und vollkommensten Tugend gemäße Tätigkeit sein, die ihn vollendet und glücklich macht.
An dieser Stelle wendet sich bei Aristoteles die Erörterung. Es folgt nicht gleich, wie man erwarten könnte, die Angabe und Beschreibung der besten Tugend und eine nähere Erklärung, wie sie und die Tugend überhaupt das Lebensglück des Menschen ausmachen könne, sondern diese Dinge werden bis zum Ende der ganzen Schrift verschoben und im letzten, dem zehnten Buche erledigt. Zunächst folgt in ausführlicher Darstellung, die den Kern der Schrift ausmacht, die Erörterung der