Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens
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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 23
Der alte Herr verbeugte sich respektvoll, trat an das Pult des Polizeirichters und sagte, wobei er den Worten die Tat folgen ließ: »Hier sind mein Name und meine Adresse, Sir.« Dann zog er sich ein oder zwei Schritte zurück und wartete mit einem weiteren höflichen und vornehmen Neigen des Kopfes darauf, befragt zu werden.
Nun verhielt es sich so, dass Mr. Fang gerade den Leitartikel einer Morgenzeitung studierte, der sich mit einem kürzlich von ihm gefällten Urteil befasste und ihn zum dreihundertundfünfzigsten Mal der speziellen und besonderen Aufmerksamkeit des Justizministers empfahl. Er war gereizter Stimmung und blickte grimmig auf.
»Wer seid Ihr?«, fragte Mr. Fang.
Der alte Herr wies ein wenig erstaunt auf seine Karte.
»Wachtmeister!«, rief Mr. Fang, der die Karte mit der Zeitung verächtlich beiseitefegte. »Wer ist dieser Bursche?«
»Mein Name, Sir«, sagte der alte Herr und sprach im Tonfall eines echten Gentlemans, »mein Name, Sir, ist Brownlow. Es sei mir gestattet, mich nach dem Namen des Polizeirichters zu erkundigen, der eine ehrbare Person unter dem Schutz seines Amtes grundlos und ohne Not beleidigt.« Während er das sagte, schaute sich Mr. Brownlow in der Amtsstube um, als suche er jemanden, der ihm die gewünschte Auskunft geben würde.
»Wachtmeister!«, rief Mr. Fang und stieß die Zeitung fort. »Was liegt gegen diesen Kerl vor?«
»Gar nichts, Euer Ehren«, erwiderte der Wachtmeister. »Er ist Kläger gegen diesen Jungen, Euer Ehren.«
Seine Ehren wusste das sehr wohl, doch war es eine gute Gelegenheit zum Schikanieren, und eine billige dazu.
»Kläger gegen diesen Jungen, soso«, sagte Fang und musterte Mr. Brownlow verächtlich von Kopf bis Fuß. »Vereidigt ihn!«
»Bevor ich vereidigt werde, möchte ich darum bitten, noch etwas sagen zu dürfen«, erklärte Mr. Brownlow, »und zwar, dass ich, ohne es selbst erlebt zu haben, niemals geglaubt hätte …«
»Haltet den Mund, Sir!«, fuhr ihn Mr. Fang gebieterisch an.
»Das werde ich nicht, Sir!«, entgegnete der alte Herr.
»Haltet sofort den Mund, oder ich lasse Euch aus der Amtsstube entfernen!«, sagte Mr. Fang. »Ihr seid ein unverschämter und anmaßender Geselle. Wie könnt Ihr es wagen, einen Polizeirichter zu drangsalieren!«
»Also wirklich!«, rief der alte Herr und lief rot an.
»Vereidigt diese Person«, sagte Fang zu dem Schreiber. »Ich will kein Wort mehr hören. Vereidigt ihn.«
Mr. Brownlows Empörung war riesengroß, aber da er wohl bedachte, dass es dem Jungen vielleicht nur schaden würde, wenn er sich Luft machte, hielt er seine Gefühle im Zaum und willigte ein, sich umgehend vereidigen zu lassen.
»Also«, sagte Fang, »was liegt gegen diesen Jungen vor? Was habt Ihr dazu zu sagen, Sir?«
»Ich hielt mich gerade an einer Bücherbude auf …«, begann Mr. Brownlow.
»Haltet den Mund, Sir!«, unterbrach Mr. Fang. »Der Polizist! Wo ist der Polizist? Da, vereidigt diesen Polizisten. Gut, was ist vorgefallen?«
Der Polizist berichtete mit gebührender Unterwürfigkeit, wie er die Verhaftung vorgenommen, Oliver durchsucht und nichts gefunden habe, und das sei alles, was er wisse.
»Gibt es irgendwelche Zeugen?«, erkundigte sich Mr. Fang.
»Nein, Euer Ehren«, antwortete der Polizist.
Mr. Fang saß einige Minuten schweigend da, wandte sich dann an den Kläger und sagte aufbrausend:
»Wollt Ihr nun Eure Klage gegen diesen Jungen vorbringen, Bursche, oder nicht? Ihr steht unter Eid. Wenn Ihr die Aussage verweigert, werde ich Euch wegen Missachtung des Gerichts verurteilen, das werde ich, beim …«
Bei wem oder was sollte niemand erfahren, denn Schreiber und Wärter husteten just in diesem Moment sehr vernehmlich, und Erstgenannter ließ ein dickes Buch zu Boden fallen – rein zufällig, versteht sich –, so dass man die Worte nicht verstehen konnte.
Ungeachtet vieler Unterbrechungen und wiederholter Beleidigungen brachte Mr. Brownlow es fertig, seinen Fall vorzutragen. Er berichtete, er sei in der Überraschung des Augenblicks dem Jungen nachgelaufen, weil er ihn habe davonrennen sehen, und gab seiner Hoffnung Ausdruck, der Polizeirichter möge, falls er den Jungen nicht für den Dieb selbst, aber doch für einen Komplizen halte, mit ihm so gnädig verfahren, wie es das Gesetz zulasse.
»Er hat sich bereits eine Verletzung zugezogen«, sagte der alte Herr abschließend. »Und ich fürchte«, fügte er mit großem Nachdruck hinzu und schaute zu der Schranke, »ich fürchte wirklich, dass er ernsthaft krank ist.«
»Oh ja, das fürchte ich auch!«, rief Mr. Fang höhnisch. »Na komm schon, lass die Mätzchen, du kleiner Strolch, das zieht bei mir nicht. Wie heißt du?«
Oliver versuchte zu antworten, aber ihm versagte die Stimme. Er war leichenblass, und alles um ihn herum schien sich zu drehen.
»Dein Name, du verstockter Lausebengel!«, herrschte ihn Mr. Fang an. »Wachtmeister, sein Name?«
Das galt einem gutmütigen alten Burschen in gestreifter Weste, der an der Schranke stand. Er beugte sich zu Oliver hinab und wiederholte die Frage; da er jedoch feststellte, dass Oliver sie tatsächlich nicht verstand, und da er wusste, eine ausbleibende Antwort würde den Polizeirichter nur noch mehr erzürnen und das Urteil verschärfen, verlegte er sich beherzt aufs Raten.
»Er sagt, sein Name sei Tom White, Euer Ehren«, sprach dieser gütige Diebesfänger.
»Aha, er will wohl nicht laut reden, was?«, sagte Fang. »Also gut, wo wohnt er?«
»Wo er kann, Euer Ehren«, erwiderte der Wachtmeister, der abermals vorgab, von Oliver Antwort zu erhalten.
»Hat er Eltern?«, begehrte Mr. Fang zu wissen.
»Er sagt, sie seien gestorben, als er noch ganz klein war, Euer Ehren«, erwiderte der Wachtmeister, die Antwort wieder auf gut Glück erfindend.
An diesem Punkt des Verhörs hob Oliver den Kopf, schaute sich flehenden Blickes um und murmelte kaum vernehmlich die Bitte um einen Schluck Wasser.
»Dummes Zeug!«, rief Mr. Fang. »Versuch nicht, mich zum Narren zu halten.«
»Ich glaube, er ist tatsächlich krank, Euer Ehren«, wandte der Wachtmeister ein.
»Das weiß ich besser«, sagte Mr. Fang.
»Passt auf, Herr Wachtmeister«, rief der alte Herr und hob unwillkürlich die Hände, »er fällt um!«
»Weg da, Wachtmeister«, schrie Fang, »lasst ihn fallen, wenn er will.«
Oliver machte von dieser freundlichen Erlaubnis Gebrauch und sackte ohnmächtig zu Boden. Die Männer in der Amtsstube sahen einander an, aber keiner wagte, sich zu rühren.
»Ich wusste, dass er sich bloß verstellt«, meinte Fang, als hätte Oliver den unstrittigen Beweis dieser Tatsache geliefert.