Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 31
»Mein liebes Kind«, entgegnete der alte Herr, bewegt von der unerwarteten Erregung, mit der Oliver seine Bitte vortrug, »du brauchst nicht zu befürchten, dass ich dich im Stich lasse, solange du mir keinen Grund dazu gibst.«
»Das werde ich niemals tun, Sir, niemals«, unterbrach ihn Oliver.
»Das hoffe ich«, erwiderte der alte Herr, »und ich kann es mir auch nicht vorstellen. Zwar habe ich mich früher schon getäuscht in Leuten, denen ich Gutes tun wollte, dennoch fühle ich mich sehr geneigt, dir zu vertrauen, und nehme größeren Anteil an dir, als ich es mir selbst so recht erklären kann. Die Menschen, denen meine innigste Liebe galt, liegen kalt in ihren Gräbern, aber auch wenn das Glück und die Freude meines Lebens mit ihnen begraben wurden, so habe ich aus meinem Herzen doch keinen Sarg gemacht und mich den besten meiner Gefühle auch nicht für immer und ewig verschlossen. Das tiefe Leid hat sie nur gestärkt und geläutert.«
Während der alte Herr das sagte, mit gedämpfter Stimme und mehr zu sich selbst als zu seinem Gegenüber, und danach für eine kurze Weile schwieg, blieb Oliver ganz still sitzen.
»Na schön«, fuhr der alte Mann in etwas muntererem Ton schließlich fort, »ich sage dies bloß, weil dein Herz noch jung ist, und wenn du weißt, dass ich viel Kummer und Schmerz erlitten habe, wirst du vielleicht achtsamer sein und mich nicht erneut verletzen. Du sagst, du seist eine Waise, ohne irgendeinen Verwandten auf der Welt, und alle Erkundigungen, die ich einziehen konnte, haben diese Behauptung bestätigt. Erzähle mir deine Geschichte, woher du kommst, wer dich großgezogen hat und wie du in die Gesellschaft geraten bist, in der ich dich angetroffen habe. Sprich die Wahrheit, und dir soll nie ein Freund fehlen, solange ich lebe.«
Olivers Rede wurde immer wieder von Schluchzern unterbrochen, und als er schildern wollte, wie er im Heim aufgewachsen war und Mr. Bumble ihn ins Armenhaus brachte, ließ sich unten an der Haustür ein höchst ungeduldiges, kurzes Doppelklopfen vernehmen, und das Dienstmädchen kam die Treppe heraufgeeilt, um einen Mr. Grimwig zu melden.
»Kommt er herauf?«, erkundigte sich Mr. Brownlow.
»Jawohl, Sir«, erwiderte das Dienstmädchen. »Er hat gefragt, ob es im Hause irgendwelches Gebäck gäbe, und als ich bejahte, meinte er, er sei zum Tee gekommen.«
Mr. Brownlow lächelte und erklärte an Oliver gewandt, Mr. Grimwig sei ein alter Freund von ihm, und er solle sich nicht an dessen zuweilen etwas rauhem Umgangston stören, denn er sei in Wahrheit ein guter Kerl, wie er aus gutem Grunde wisse.
»Soll ich nach unten gehen, Sir?«, fragte Oliver.
»Nein«, antwortete Mr. Brownlow, »ich hätte lieber, dass du hierbleibst.«
In diesem Augenblick spazierte, auf einen dicken Stock gestützt, ein beleibter älterer Herr ins Zimmer. Er war auf einem Bein ein wenig lahm und trug einen blauen Gehrock, eine gestreifte Weste, Nankinghosen, Gamaschen und einen weißen Hut mit breiter, hochgeschlagener Krempe, die auf der Unterseite grün war. Eine zierlich gefältelte Hemdkrause schaute oben aus seiner Weste heraus, und unten lugte eine sehr lange stählerne Uhrenkette, an deren Ende bloß ein Schlüssel befestigt war, hervor. Die Enden seines weißen Halstuchs waren zu einem Ball von der Größe einer Apfelsine verschlungen, und die mannigfachen Mienen, zu denen er sein Gesicht verzog, waren unbeschreiblich. Er besaß die Angewohnheit, den Kopf beim Sprechen zur Seite zu drehen und einen dabei zugleich aus den Augenwinkeln anzusehen, was jeden Betrachter unweigerlich an einen Papageien erinnerte. In dieser Haltung verharrte er, sobald er eingetreten war, und rief – während er ein Stückchen Apfelsinenschale mit ausgestrecktem Arm von sich hielt – mit knurrender, missmutiger Stimme aus:
»Schaut her, seht Ihr das? Ist es nicht eine höchst seltsame und außergewöhnliche Sache, dass ich keines Menschen Haus betreten kann, ohne ein Stückchen von diesem elenden Freund aller Knochenflicker auf der Treppe zu finden? Eine Apfelsinenschale hat mich einst lahm gemacht, und ich weiß, dass eine Apfelsinenschale schließlich mein Tod sein wird. Verlasst Euch darauf, Sir, eine Apfelsinenschale wird mein Tod sein, oder ich will meinen Kopf fressen, Sir!«
Mit diesem freundlichen Angebot pflegte Mr. Grimwig beinahe jede Behauptung, die er tat, zu bekräftigen, und das war in seinem Fall umso eigentümlicher, da – selbst wenn man einmal theoretisch die Möglichkeit in Betracht zöge, dass der wissenschaftliche Fortschritt eines Tages einem Herrn erlaube, seinen eigenen Kopf zu verschlingen, falls es ihn danach gelüste – Mr. Grimwigs Kopf so ungewöhnlich groß war, dass selbst der zuversichtlichste Mensch auf Erden kaum die Hoffnung hegen konnte, ihn mit einem Male zu verspeisen, ganz zu schweigen von der äußerst dicken Puderschicht.
»Dann will ich meinen Kopf fressen, Sir«, wiederholte Mr. Grimwig und stieß seinen Stock auf den Boden. »Hallo, wen haben wir denn da?«, rief er beim Anblick Olivers und trat ein oder zwei Schritte zurück.
»Das ist der kleine Oliver Twist, von dem wir gesprochen haben«, sagte Mr. Brownlow.
Oliver verbeugte sich.
»Ihr wollt damit doch wohl nicht etwa sagen, dies sei der Junge, der Fieber hatte?«, fragte Mr. Grimwig und wich noch etwas weiter zurück. »Einen Augenblick! Sagt nichts! Halt …«, fuhr Mr. Grimwig fort, der im Triumphgefühl seiner Entdeckung plötzlich jegliche Furcht vor dem Fieber verlor, »das ist der Junge mit der Apfelsine! Wenn das nicht der Junge ist, Sir, der die Apfelsine gegessen und das Stückchen Schale auf die Treppe geworfen hat, will ich meinen Kopf fressen, und den seinen dazu.«
»Nein, nein, er war’s nicht!«, rief Mr. Brownlow lachend. »Kommt, setzt Euren Hut ab und sprecht mit meinem jungen Freund.«
»So etwas kann mich ungemein in Rage bringen, Sir«, sagte der reizbare alte Herr, während er seine Handschuhe abstreifte. »In unserer Straße liegen ständig irgendwelche Apfelsinenschalen auf dem Gehweg, mal mehr, mal weniger, und ich weiß, dass der Gehilfe des Knochenflickers an der Ecke sie dort hinwirft. Gestern abend ist eine junge Frau darauf ausgerutscht und stürzte gegen meinen Gartenzaun. Ich habe gesehen, wie sie, gleich nachdem sie aufgestanden ist, auf den teuflischen roten Weihnachtslampion vor seiner Praxis geblickt hat. ›Geht nicht dorthin‹, habe ich ihr aus dem Fenster zugerufen, ›das ist ein Meuchelmörder! Ein Fallensteller!‹ Und das ist er. Wenn nicht, dann …«
Hier stieß der jähzornige alte Herr kräftig seinen Stock auf den Boden, was seine Freunde immer als Darbietung des üblichen Angebots verstanden, wenn es nicht in Worten ausgedrückt wurde. Dann setzte er sich, den Stock noch immer in der Hand, klappte einen Kneifer auf, den er an einem breiten schwarzen Band befestigt trug, und betrachtete Oliver, der errötete, als er bemerkte, dass er einer Musterung unterzogen wurde, und sich ein weiteres Mal verbeugte.
»So, das ist also der Junge?«, fragte Mr. Grimwig schließlich.
»Das ist der Junge«, entgegnete Mr. Brownlow.
»Wie geht es dir, mein Junge?«, erkundigte sich Mr. Grimwig.
»Danke, Sir, schon sehr viel besser«, antwortete Oliver.
Mr. Brownlow, der zu befürchten schien, sein wunderlicher Freund sei im Begriff, eine unpassende Bemerkung zu machen, bat Oliver, die Treppe hinabzugehen und Mrs. Bedwin zu sagen, dass sie nun Tee trinken wollten, was er, da ihm das Benehmen des Besuchers alles andere als behagte, mit Freuden tat.
»Ein hübscher Junge, nicht wahr?«, meinte Mr. Brownlow.
»Weiß nicht«, erwiderte Mr. Grimwig verdrossen.
»Nicht?«
»Nein. Ich weiß