Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens
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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 32
»Ein Mehlgesicht. Ein Bekannter von mir hat einen fleischgesichtigen Jungen, ein hübscher Knabe, heißt es, mit rundem Kopf, roten Bäckchen und glänzenden Augen. Ein grässlicher Kerl, dessen Leib und Gliedmaßen aus den Nähten seines blauen Anzugs zu platzen drohen, mit der Stimme eines Lotsen und dem Appetit eines Wolfs. Ich kenne ihn, diesen Lümmel!«
»Na, na, na«, rief Mr. Brownlow, »das sind aber nicht die Eigenschaften des kleinen Oliver Twist, also braucht Ihr Euch auch nicht über ihn aufzuregen.«
»Nein, das sind sie nicht«, erwiderte Mr. Grimwig, »aber womöglich hat er noch schlechtere.«
An dieser Stelle hüstelte Mr. Brownlow unwillig, was Mr. Grimwig das allergrößte Vergnügen zu bereiten schien.
»Womöglich hat er noch schlechtere, sage ich«, wiederholte Mr. Grimwig. »Wo kommt er her? Wer ist er? Was ist er? Er hat Fieber gehabt. Na und? Fieber bekommen nicht allein gute Menschen, oder? Auch schlechte Menschen haben zuweilen Fieber, nicht wahr? Ich kannte einen Mann, der auf Jamaika gehängt wurde, weil er seinen Herrn ermordet hatte. Der war sechsmal an Fieber erkrankt, ohne dass er deshalb begnadigt wurde. Pah, was für ein Unsinn!«
Nun verhielt es sich tatsächlich so, dass Mr. Grimwig tief im Inneren seines Herzens durchaus geneigt war, zuzugeben, dass Olivers Erscheinung und sein Betragen ungewöhnlich einnehmend waren, doch besaß er einen starken Hang zum Widerspruch, der bei dieser Gelegenheit noch durch den Fund der Apfelsinenschale angestachelt wurde, und da er fest davon überzeugt war, dass kein Mensch ihm vorschreiben könne, ob ein Junge gut aussieht oder nicht, war er von Anfang an entschlossen, sich seinem Freund zu widersetzen. Als Mr. Brownlow zugab, auf keinen der fraglichen Punkte eine befriedigende Antwort zu wissen und jede weitere Erforschung von Olivers Vergangenheit aufgeschoben zu haben, bis er den Jungen wieder für so weit bei Kräften hielt, dies ertragen zu können, kicherte Mr. Grimwig boshaft. Und er erkundigte sich hämisch, ob die Haushälterin auch jeden Abend das Besteck zähle, denn wenn sie nicht mal eines schönen Morgens ein oder zwei silberne Löffel vermissen werde, dann wolle er seinen Kopf … und so weiter und so fort.
All dies ertrug Mr. Brownlow, obwohl er selbst leicht aufbrausenden Charakters war, mit ruhigem Gemüt, weil er die Eigenheiten seines Freunds kannte, und da Mr. Grimwig sich beim Tee gütigerweise dazu herabließ, seiner vollsten Zufriedenheit mit dem Gebäck Ausdruck zu geben, blieb die Stimmung ungetrübt, und Oliver, der ihnen Gesellschaft leistete, begann sich in der Gegenwart des grimmigen alten Herrn ein wenig behaglicher als bisher zu fühlen.
»Und wann werdet Ihr einen vollständigen, wahrhaftigen und ausführlichen Bericht über Leben und Abenteuer des Oliver Twist zu hören bekommen?«, fragte Grimwig am Ende der Mahlzeit Mr. Brownlow, mit einem Seitenblick auf Oliver, als er den Gesprächsgegenstand wieder aufnahm.
»Morgen vormittag«, antwortete Mr. Brownlow. »Ich möchte dann lieber mit ihm alleine sein. Komm morgen früh um zehn Uhr zu mir herauf, mein Guter.«
»Ja, Sir«, erwiderte Oliver. Seine Antwort kam leicht zögerlich, weil er verwirrt war, dass Mr. Grimwig ihn so scharf ansah.
»Ich will Euch mal was sagen«, flüsterte dieser Herr Mr. Brownlow zu, »er wird morgen früh nicht heraufkommen. Ich habe sein Zögern bemerkt. Er macht Euch was vor, mein lieber Freund.«
»Ich bin überzeugt, dass er es nicht tut«, entgegnete Mr. Brownlow leidenschaftlich.
»Wenn er’s nicht tut«, sagte Mr. Grimwig, »dann will ich …«, und stieß mit dem Stock auf den Boden.
»Ich bürge mit meinem Leben für die Aufrichtigkeit dieses Jungen!«, erwiderte Mr. Brownlow und klopfte auf den Tisch.
»Und ich mit meinem Kopf für seine Falschheit!«, rief Mr. Grimwig und klopfte ebenfalls auf den Tisch.
»Wir werden ja sehen«, sagte Mr. Brownlow, seinen aufsteigenden Zorn bezwingend.
»Das werden wir«, entgegnete Mr. Grimwig mit einem herausfordernden Lächeln, »ja, das werden wir.«
Wie das Schicksal so spielte, kam in diesem Augenblick zufällig Mrs. Bedwin mit einem kleinen Packen Bücher herein, die Mr. Brownlow am Vormittag bei demselben Buchhändler erworben hatte, den wir bereits aus unserer Geschichte kennen, legte sie auf den Tisch und wollte das Zimmer wieder verlassen.
»Der Botenjunge soll noch warten, Mrs. Bedwin«, bat Mr. Brownlow, »ich möchte, dass er etwas mit zurücknimmt.«
»Er ist bereits wieder fort, Sir«, erwiderte Mrs. Bedwin.
»Dann ruft ihn zurück«, sagte Mr. Brownlow, »es ist wichtig. Er ist ein armer Mann, und die Bücher sind noch nicht bezahlt. Außerdem sollen ein paar andere Bücher zurückgebracht werden.«
Die Haustür wurde geöffnet, Oliver lief in die eine Richtung, das Dienstmädchen in die andere, und Mrs. Bedwin blieb auf der Schwelle stehen und rief nach dem Botenjungen, aber es war kein Botenjunge zu sehen. Oliver und das Mädchen kehrten ganz außer Atem zurück, nur um zu berichten, dass sie keine Kunde von ihm hatten.
»Ach du meine Güte, das tut mir aber leid«, sagte Mr. Brownlow, »vor allem wollte ich diese Bücher noch heute abend zurückgeben.«
»Dann schickt doch Oliver«, meinte Mr. Grimwig mit einem ironischen Lächeln, »er wird sie ganz bestimmt wohlbehalten abliefern.«
»Ja, ich will gehen, wenn Ihr erlaubt, Sir«, sagte Oliver. »Ich werde auch den ganzen Weg rennen, Sir.«
Der alte Herr wollte gerade einwenden, dass Oliver auf keinen Fall gehen dürfe, als ein höchst gehässiges Hüsteln Mr. Grimwigs ihn zu dem Entschluss brachte, dass er doch gehen und durch die prompte Erledigung seines Auftrages beweisen solle, wie ungerechtfertigt Grimwigs Verdächtigungen seien, zumindest in diesem Punkt.
»Du darfst gehen, mein Lieber«, sagte der alte Herr. »Die Bücher liegen auf dem Stuhl neben meinem Tisch. Geh sie holen.«
Oliver, der froh war, sich nützlich machen zu können, kam dienstbeflissen mit den Büchern unterm Arm zurück und wartete, die Mütze in der Hand, welche Botschaft man ihm auftragen würde.
»Richte aus«, sagte Mr. Brownlow mit festem Blick auf Grimwig, »richte aus, dass du diese Bücher zurückbringst und gekommen bist, um die vier Pfund zehn zu zahlen, die ich ihm schulde. Hier ist eine Fünfpfundnote, also bringst du zehn Shilling Wechselgeld zurück.«
»Ich werde keine zehn Minuten brauchen, Sir«, erwiderte Oliver eifrig. Nachdem er den Geldschein in seine Jackentasche geknöpft und die Bücher sorgfältig unter den Arm gesteckt hatte, verbeugte er sich ehrerbietig und verließ das Zimmer. Mrs. Bedwin begleitete ihn bis zur Haustür, beschrieb ihm den kürzesten Weg, nannte ihm den Namen des Buchhändlers und der Straße, woraufhin Oliver bestätigte, alles verstanden zu haben. Nachdem sie ihm noch mehrmals eingeschärft hatte, aufzupassen und sich nicht zu erkälten, gestattete die alte Dame ihm schließlich zu gehen.
»Gott schütze diesen lieben Jungen!«, rief die alte Dame, als sie ihm nachschaute. »Es ist mir so gar nicht recht, ihn aus den Augen zu lassen.«
In diesem Moment sah sich Oliver fröhlich um und nickte ihr zu, bevor er um die Ecke verschwand. Die alte Dame erwiderte lächelnd seinen Gruß, schloss die Tür und ging wieder auf ihr Zimmer.
»Wollen wir mal sehen, in spätestens zwanzig Minuten wird er zurück sein«, sagte Mr. Brownlow, zog seine Uhr hervor