Das Haus der Freude. Edith Wharton

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Das Haus der Freude - Edith Wharton Reclam Taschenbuch

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aufgehört für sie zu existieren, als er seinen Zweck nicht mehr erfüllte, und sie saß bei ihm mit der Unverbindlichkeit, die von einem Reisenden ausgeht, der darauf wartet, dass ein verspäteter Zug abfährt. Lilys Gefühle waren sanfter: Sie empfand Mitleid für ihn auf eine verängstigte und fruchtlose Weise. Aber die Tatsache, dass er die meiste Zeit über bewusstlos war, und dass seine Aufmerksamkeit, wenn sie ins Zimmer kam, nach einem Moment von ihr wegglitt, ließen ihn noch fremder erscheinen als zu ihrer Kinderzeit, in der er immer erst nach Einbruch der Dunkelheit heimkehrte. Es kam ihr vor, als habe sie ihn immer durch einen Nebel gesehen, zuerst durch den der Schläfrigkeit, dann den der Entfernung und Gleichgültigkeit, und jetzt war der Nebel so dicht geworden, dass ihr Vater kaum noch zu erkennen war. Wenn sie ihm irgendwelche kleinen Dienste hätte erweisen können, oder wenn sie mit ihm einige der rührenden Worte hätte wechseln können, die sie aufgrund ausgedehnter Romanlektüre mit solchen Situationen in Verbindung brachte, wäre der töchterliche Instinkt in ihr vielleicht erwacht, aber weil ihr Mitleid keine Möglichkeit fand, sich aktiv auszudrücken, blieb es im Stadium des Zuschauens, vom grimmigen, nie erlahmenden Groll ihrer Mutter überschattet. Jeder Blick von Mrs. Bart und alles, was sie tat, schien zu sagen: »Jetzt tut er dir leid – aber du wirst noch anders denken, wenn du erfährst, was er uns angetan hat.«

      Für Lily war es eine Erleichterung, als ihr Vater starb.

      Dann setzte ein langer Winter ein. Es war ihnen noch ein wenig Geld geblieben, aber für Mrs. Bart war das schlimmer, als wenn sie gar keines mehr gehabt hätten – der reine Hohn, verglichen mit dem, was ihnen zustehe. Welchen Sinn hatte das Leben schon, wenn sie doch im Dreck leben mussten? Sie versank in eine Art wütender Apathie, einen Zustand reglosen Zorns gegen ihr Schicksal. Ihre besondere Fähigkeit »wirtschaften« zu können ließ sie im Stich, oder sie legte nicht mehr genügend Stolz darein, sich darum zu bemühen. Es war gut und schön zu »wirtschaften«, wenn man damit erreichte, einen eigenen Wagen halten zu können, aber wenn die allergrößte Findigkeit die Tatsache nicht verbergen konnte, dass man zu Fuß gehen musste, lohnte sich die Mühe nicht mehr.

      Lily und ihre Mutter wanderten von Ort zu Ort, entweder machten sie ausgedehnte Besuche bei Verwandten, deren Haushaltung Mrs. Bart kritisierte, während sie es sehr beklagten, dass Mrs. Bart Lily erlaubte, im Bett zu frühstücken, wo das Mädchen doch so wenig Aussichten hatte, oder sie verbrachten öde Wochen in billigen Pensionen auf dem Kontinent, wo Mrs. Bart sich mit wilder Entschlossenheit von den einfachen Mahlzeiten ihrer Gefährten im Unglück fernhielt. Besonders sorgfältig mied sie ihre alten Freunde und die Orte ihrer früheren gesellschaftlichen Erfolge. Armut schien ihr solch ein Eingeständnis des Versagens zu sein, dass sie im Grunde eine Schande war, und sie entdeckte in der freundlichsten Annäherung einen Anklang von Triumph über ihr Unglück.

      Nur eines tröstete sie, und das war die Betrachtung von Lilys Schönheit. Sie studierte diese mit einer Art Leidenschaft, so, als ob sie eine Waffe wäre, die sie langsam für ihre Rache geschmiedet hatte. Lilys Schönheit war der letzte Posten ihres Vermögens, das Kernstück, um das herum ihr Leben wieder aufgebaut werden sollte. Mrs. Bart wachte eifersüchtig über sie, als ob sie ihr eigener Besitz wäre und Lily bloß so etwas wie ein Verwalter; die Mutter bemühte sich der Tochter ein Gefühl der Verantwortung einzuprägen, das ein solches Gut verlangte. Sie verfolgte im Stillen die Laufbahn anderer Schönheiten, machte ihre Tochter darauf aufmerksam, was man mit einer solchen Gabe erreichen konnte, und hielt sich lange bei den warnenden Beispielen derjenigen auf, die es trotz ihrer Schönheit nicht vermocht hatten, das zu bekommen, was sie wollten; für Mrs. Bart konnte nur Dummheit das beklagenswerte Ende einiger dieser Beispiele erklären. Sie selbst war nicht darüber erhaben, inkonsequent zu sein und das Schicksal, nicht sich selbst, für ihr eigenes Unglück verantwortlich zu machen; aber sie wetterte so scharfzüngig gegen Liebesheiraten, dass Lily glauben mochte, ihre Heirat sei eine solche gewesen, hätte Mrs. Bart ihr nicht oftmals versichert, dass sie dazu »überredet« worden sei – von wem erklärte sie nie.

      Lily war gehörig beeindruckt vom Umfang ihrer Möglichkeiten. Die Schäbigkeit ihres gegenwärtigen Lebens verlieh der Existenz, auf die sie, wie sie fand, ein Anrecht hatte, einen tröstlichen Zauber. Einer weniger klaren Intelligenz hätten Mrs. Barts Ratschläge gefährlich werden können, aber Lily hatte begriffen, dass Schönheit nur das Rohmaterial für Eroberungen war, und dass andere Künste vonnöten waren, wollte man damit Erfolge erzielen. Sie wusste, dass es eine subtilere Form der von ihrer Mutter so heftig kritisierten Dummheit gewesen wäre, Überheblichkeit zu zeigen, und sie brauchte nicht lange, um zu lernen, dass eine Schönheit mehr Taktgefühl braucht als die Besitzer eher durchschnittlicher Gesichtszüge.

      Ihre Ambitionen waren weniger krude als die von Mrs. Bart. Ein Grund zur Klage war es für diese Dame unter anderem gewesen, dass ihr Gatte – in den ersten Tagen ihrer Ehe, bevor er zu müde für dergleichen war – seine Abende damit verschwendet hatte, »Gedichte zu lesen«, wie sie es vage beschrieb, und unter den Habseligkeiten, die nach seinem Tode in aller Eile zur Auktion weggeschickt wurden, waren ein oder zwei Dutzend abgegriffener Bände gewesen, die zwischen Stiefeln und Medizinflaschen in den Regalen seines Ankleidezimmers um ihre Existenz gekämpft hatten. Lily besaß eine gefühlvolle Ader, die sie vielleicht aus dieser Quelle mitbekommen hatte und die sogar ihren alltäglichsten Vorhaben einen Anflug von Idealisierung gab. Sie sah ihre Schönheit gern als eine Kraft für das Gute an, als etwas, das ihr Gelegenheit gab, eine Position zu erreichen, in der sie ihren Einfluss zur Verbreitung von Vornehmheit und gutem Geschmack fühlbar machen könnte. Sie liebte Bilder und Blumen und auch gefühlvolle Romane, und es war unvermeidlich, dass sie glaubte, ihr Verlangen nach weltlichen Vorteilen würde durch solche Neigungen veredelt. Sie hatte kein Interesse daran, einen Mann zu heiraten, der weiter nichts als reich war; im Geheimen schämte sie sich wegen der geschmacklosen Leidenschaft ihrer Mutter für Geld. Am liebsten wäre Lily ein englischer Adliger gewesen mit politischen Ambitionen und riesigen Ländereien, oder am zweitliebsten, ein italienischer Prinz mit einem Schloss im Apennin und einem ererbten Amt im Vatikan. Gerade aussichtslose Fälle hatten einen romantischen Reiz für sie, und sie stellte sich gern vor, wie sie sich abseits hielt von der vulgären Hast des Quirinals5 und alles, was ihr Vergnügen bereitete, im Dienste einer unvordenklichen Tradition opferte …

      Wie lange her und wie weit entfernt ihr all das erschien! Jene ehrgeizigen Pläne waren kaum weniger sinnlos und kindisch gewesen als die Wünsche ihrer Kinderzeit, die sich auf den Besitz einer französischen Gliederpuppe mit echtem Haar gerichtet hatten. War es nur zehn Jahre her, dass sie in ihren Vorstellungen zwischen einem englischen Earl und einem italienischen Prinzen geschwankt hatte? Unnachgiebig ging sie in Gedanken noch einmal dieser trostlosen Zeit nach …

      Nach zwei Jahren hungrigen Umherwanderns war Mrs. Bart gestorben – gestorben an einem tiefen Ekel. Sie hasste alles Schäbige, und ihr Schicksal war es, selbst schäbig zu leben. Ihre Vorstellungen von einer glänzenden Heirat für Lily waren nach dem ersten Jahr verblasst.

      »Man kann dich nicht heiraten, wenn man dich nicht sieht – und wie kann dich jemand sehen in diesen Löchern, in denen wir festsitzen?« So lautete die ganze Last ihrer Klage, und ihre letzte dringende Bitte an die Tochter war, dem schäbigen Leben zu entkommen, wenn sie nur irgend könnte.

      »Lass es nicht an dir hochkriechen und dich in die Tiefe reißen. Kämpfe dich irgendwie da heraus – du bist jung und kannst es schaffen«, insistierte sie.

      Sie war während einer ihrer kurzen Besuche in New York gestorben, und dort wurde Lily gleich zum Hauptgesprächsgegenstand eines Familienrates, den ihre reichen Verwandten einberufen hatten, die man sie verachten gelehrt hatte, weil sie im Dreck lebten. Vielleicht hatten diese Verwandten eine leise Ahnung von den Gefühlen, zu denen man sie erzogen hatte, denn keiner von ihnen zeigte ein sehr lebhaftes Verlangen nach ihrer Gesellschaft. In der Tat stand sogar zu befürchten, dass diese Frage ungelöst bleiben würde, bis Mrs. Peniston mit einem Seufzer verkündete: »Ich werde es für ein Jahr mit ihr versuchen.«

      Jedermann war überrascht, aber alle verbargen ihre Überraschung, damit Mrs. Peniston nicht verunsichert würde und sich ihre Entscheidung

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