Das Haus der Freude. Edith Wharton

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Das Haus der Freude - Edith Wharton Reclam Taschenbuch

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und wenn sie auch keineswegs die reichste in der Familie war, fanden die anderen Familienmitglieder doch Gründe genug, warum die Vorsehung ganz eindeutig sie dazu auserwählt habe, die Sorge für Lily zu übernehmen. Zum Ersten war sie alleinstehend, und es würde doch reizend für sie sein, eine junge Gefährtin zu haben. Zum Zweiten reiste sie manchmal, und Lilys vertrauter Umgang mit fremden Sitten – von ihren konservativeren Verwandten als Unglück beklagt – würde sie zumindest in die Lage versetzen, als eine Art Reiseführer zu fungieren. Aber in Wahrheit war Mrs. Peniston von diesen Überlegungen nicht beeinflusst worden. Sie hatte das Mädchen nur aufgenommen, weil sonst niemand es haben wollte und weil sie von einer falschen Scham geleitet wurde, welche die öffentliche Zurschaustellung von Selbstsucht schwierig machte, wenn sie auch nicht verhinderte, dieser im Privaten nachzugeben. Es wäre für Mrs. Peniston unmöglich gewesen, auf einer einsamen Insel heroisch zu handeln, aber wenn die Augen ihrer kleinen Welt auf sie gerichtet waren, empfand sie ein gewisses Vergnügen an einer solchen Tat.

      Sie erntete jedoch den Lohn, auf den Selbstlosigkeit einen berechtigten Anspruch hat, und bekam eine angenehme Gefährtin in ihrer Nichte. Sie hatte erwartet, Lily halsstarrig, kritisch und »fremdländisch« zu finden – denn sogar Mrs. Peniston, die doch dann und wann ins Ausland fuhr, hatte die Furcht der ganzen Familie vor Ausländischem –, aber das Mädchen zeigte eine Fügsamkeit, die jemandem mit mehr Scharfsinn, als ihre Tante ihn bewies, weniger beruhigend erschienen wäre als die offene Selbstsucht der Jugend. Ihr Unglück hatte Lily geschmeidig gemacht, statt sie zu verhärten, und biegsames Material ist weniger leicht zu zerbrechen als festes.

      Mrs. Peniston hatte jedoch unter der Anpassungsfähigkeit ihrer Nichte nicht zu leiden. Lily hatte nicht die Absicht, Vorteile aus der Gutartigkeit ihrer Tante zu ziehen. Sie war ehrlich dankbar für die Zuflucht, die sich ihr bot, Mrs. Penistons wohlhabende Einrichtung war zumindest äußerlich nicht schäbig. Aber das Schäbige ist eine Eigenschaft, die sich auf alle mögliche Art und Weise tarnt, und Lily fand bald heraus, dass es in der teuren Routine, aus der das Leben ihrer Tante bestand, ebenso lauerte wie in dem improvisierten Leben in einer Pension auf dem Kontinent.

      Mrs. Peniston war eine jener Randfiguren, die dem Leben eine gewisse Polsterung geben. Es war unmöglich, sich vorzustellen, sie hätte jemals im Zentrum irgendwelcher Aktivitäten gestanden. Das Interessanteste an ihr war die Tatsache, dass ihre Großmutter eine Van Alstyne gewesen war. Diese Verbindung mit den wohlgenährten und fleißigen Familien der frühen New Yorker Zeit verriet sich in der kalten Sauberkeit von Mrs. Penistons Salon und ihrer hervorragenden Küche. Sie gehörte zu jener Klasse von New Yorkern, die immer gut gelebt, sich teuer gekleidet und sonst sehr wenig getan hatte, und diesen ererbten Verpflichtungen kam Mrs. Peniston getreulich nach. Sie hatte immer dem Leben zugeschaut, und ihr Geist ähnelte einem der kleinen Spiegel, die ihre niederländischen Ahnen am Oberlicht ihrer Fenster anzubringen pflegten, so dass sie aus den Tiefen ihrer unergründlichen Häuslichkeit sehen konnten, was sich auf der Straße zutrug.

      Mrs. Peniston gehörte ein Landsitz in New Jersey, aber sie hatte sich dort seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr aufgehalten – einem weit zurückliegenden Ereignis, das in ihrem Gedächtnis hauptsächlich als Scheidepunkt der persönlichen Erinnerungen zu existieren schien, die den Hauptgegenstand ihrer Unterhaltung darstellten. Sie war eine Frau, die sich mit großer Intensität an Daten erinnerte, und konnte, ohne viel zu überlegen, sagen, ob die Vorhänge im Salon vor oder nach Mr. Penistons letzter Krankheit erneuert worden waren.

      Mrs. Peniston fand das Landleben einsam, fand Bäume feucht und hegte eine vage Furcht davor, mit einem Stier zusammenzutreffen. Um sich vor solch unangenehmen Zufällen zu schützen, besuchte sie meist die stärker bevölkerten Badeorte, wo sie sich möglichst unpersönlich in einem gemieteten Haus niederließ und dem Leben durch den schützenden Zierrahmen ihrer Veranda zuschaute. Lily wurde sehr bald klar, dass sie bei einem solchen Vormund nur die rein materiellen Vorzüge guten Essens und teurer Kleidung genießen würde, und wenn sie solches auch wahrhaftig nicht unterschätzte, so hätte sie dies doch liebend gern gegen das eingetauscht, was Mrs. Bart sie gelehrt hatte, als ihre »Chancen« anzusehen. Sie musste seufzen, wenn sie daran dachte, was die verbissene Energie ihrer Mutter vollbracht hätte, wäre sie mit Mrs. Penistons Mitteln gepaart gewesen. Lily verfügte selbst über ausreichende Energie, aber diese wurde von der Notwendigkeit, sich den Gewohnheiten ihrer Tante anzupassen, in Schranken gehalten. Sie wusste, dass sie sich Mrs. Penistons Wohlwollen erhalten musste, koste es, was es wolle, bis sie, wie Mrs. Bart es ausgedrückt hätte, auf eigenen Beinen würde stehen können. Lily hatte für das Vagabundenleben einer armen Verwandten nichts übrig, und um sich Mrs. Peniston anzupassen, musste sie bis zu einem gewissen Grade die passive Haltung dieser Dame annehmen. Sie hatte zunächst geglaubt, es würde leicht sein, ihre Tante in den Wirbel ihrer eigenen Aktivitäten einzubeziehen, aber in Mrs. Peniston war eine statische Kraft, an der sich die Bemühungen ihrer Nichte umsonst verausgabten. Der Versuch, in ihr eine aktive Einstellung zum Leben zu wecken, war wie das Ziehen an einem Möbelstück, das fest am Boden verschraubt war. Sie erwartete keineswegs von ihrer Nichte, ebenso unbeweglich zu bleiben, nein, sie hatte die ganze Nachsicht des amerikanischen Vormundes für die Lebhaftigkeit der Jugend. Sie hatte auch Nachsicht mit gewissen anderen Gewohnheiten ihrer Nichte. Es erschien ihr selbstverständlich, dass Lily all ihr Geld für Kleidung ausgab, und sie besserte das geringe Vermögen des Mädchens durch gelegentliche »großzügige Geschenke« auf, die für eben diesen Zweck bestimmt waren. Lily, die ausgesprochen praktisch veranlagt war, hätte eine feste Zuteilung vorgezogen, aber Mrs. Peniston schätzte das periodische Wiederaufleben von Dankbarkeit, das die unerwarteten Schecks hervorriefen, und war vielleicht auch gewitzt genug zu erkennen, dass eine solche Methode zu schenken in ihrer Nichte ein heilsames Gefühl der Abhängigkeit wachhielt.

      Darüber hinaus hatte sich Mrs. Peniston nicht verpflichtet gefühlt, etwas für ihre Pflegetochter zu tun; sie war einfach beiseite getreten und hatte ihr das Feld überlassen. Lily hatte es übernommen, zunächst mit dem Selbstvertrauen des Besitzers, dann mit nach und nach geringer werdenden Forderungen, bis sie jetzt entdeckte, dass sie wahrhaftig um einen letzten Fußbreit des weiten Feldes kämpfte, das einmal, wenn sie nur gewollt hätte, ihr eigenes geworden wäre. Wie das geschehen war, wusste sie noch nicht. Manchmal dachte sie, es war so, weil Mrs. Peniston sich zu passiv verhalten hatte, dann wieder fürchtete sie, es war so, weil sie selbst nicht abwartend genug gewesen war. Hatte sie einen unangemessenen Siegesdrang gezeigt? Hatte es ihr an Geduld, Anpassungsfähigkeit und Verstellungskunst gefehlt? Ob sie sich diese Fehler nun vorwarf oder sich von ihnen freisprach, machte keinen Unterschied in der Endsumme ihres Versagens. Jüngere und weniger hübsche Mädchen hatte man schon zu Dutzenden verheiratet, und sie war neunundzwanzig und noch immer Miss Bart.

      Es kam nun vor, dass sie Anfälle zornigen Aufbegehrens gegen ihr Schicksal durchlebte, wenn sie ein Verlangen verspürte, aus dem Rennen auszusteigen und sich ein unabhängiges eigenes Leben aufzubauen. Aber was für ein Leben konnte das sein? Sie hatte kaum Geld genug, ihre Schneiderrechnungen und ihre Spielschulden zu bezahlen, und keine der vagen Interessen, die sie mit der schönen Bezeichnung »Neigungen« aufwertete, war ausgeprägt genug, ihr ein friedliches, ruhiges Leben zu ermöglichen. Ach nein – sie war zu intelligent, um mit sich selbst nicht ehrlich zu sein. Sie wusste, dass sie alles Schäbige hasste, genauso sehr wie ihre Mutter es gehasst hatte, und sie wollte bis zum letzten Atemzug dagegen ankämpfen, sie wollte sich immer und immer wieder gegen seine Flut aufrichten, bis sie die hellen Gipfel des Erfolgs, die ihrem Griff so oft entglitten waren, erreicht haben würde.

      IV

      Am nächsten Morgen fand Lily auf ihrem Frühstückstablett ein Kärtchen von ihrer Gastgeberin.

      »Liebste Lily«, hieß es da, »wenn es Dir nicht gar zu lästig ist, bis um zehn Uhr unten zu sein, würdest Du dann in mein Zimmer kommen, um mir bei ein paar unangenehmen Pflichten behilflich zu sein?«

      Lily schob das Kärtchen beiseite und sank mit einem Seufzer in ihre Kissen zurück. Es war lästig, schon um zehn Uhr unten zu sein – zu einer Stunde, die man auf Bellomont vage mit dem Sonnenaufgang verband –, und

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