Grundbegriffe der Ethik. Gerhard Schweppenhäuser
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Hier spielt die platonische Unterscheidung zwischen Meinung und Wahrheit eine wichtige Rolle. Immer dann, wenn Handlungsalternativen geprüft werden, kommt es auch darauf an, mit Hilfe stringenter kognitiver Akte vom bloßen Dafürhalten wegzukommen und zu angemessener Erkenntnis zu gelangen. In ethischen Reflexionen wird gefragt, was gut ist, nicht, was nur so scheint. ›Schein‹ ist der Schlüsselbegriff von Platons Kritik des Irrtums und des falschen Bewusstseins. Wer dem Schein der Dinge aufsitzt – wer also die Weise, wie ihm die Dinge erscheinen, für ihr wahres Wesen hält –, unterliegt einem Irrtum. Seine Aussagen werden sich im Bereich der Meinung bewegen, der doxa. Damit meint Platon bloßes Dafürhalten; darauf können keine philosophischen Erkenntnisse fundiert werden.
Erkenntnis, führt Platon in seinem Dialog Theaitetos aus, muss untrüglich sein und sich auf das Seiende beziehen. Gibt es überhaupt eine »untrüglich wahre Erklärung des Wissens«?, fragt er zunächst (Platon, Theaitetos, 208b). Wahre Erkenntnis entsteht nicht durch Sinneswahrnehmungen, die häufig täuschend sind; sie entsteht vielmehr [64]durch logische Tätigkeit der Vernunft (152c, 186d–e). Mittels rationaler Schlüsse schreitet man von der sinnlich wahrgenommenen Erscheinung von etwas fort zu einem Begriff seines Seins (ontos) bzw. seines Wesens (ousia) und damit seiner Wahrheit (aletheia). Das Zwischenergebnis, das der aporetisch unaufgelöst abgebrochene Dialog Theaitetos anbietet, lautet: Erkenntnis ist wahre Meinung über einen bzw. wahre Vorstellung von einem Gegenstand, die im Zusammenhang einer diskursiv-begrifflichen Begründung dieser Meinung steht (201d). Und woher weiß man, ob die eigene Meinung der Sache angemessen, adäquat ist? Wie lässt sich dies herausfinden? Nur durch eine Begründung. Die Qualität der Begründung ist das einzige Kriterium, mit dem man entscheiden kann, ob die Meinung zutrifft, ob sie also eine Erkenntnis oder ein Irrtum ist. Wissen ist dann die »richtige Meinung verbunden mit Erklärung« (208b). Wer das Gemeinsame und die spezifische Differenz von etwas benennen kann, »der wird nun ein Wissen haben von dem Gegenstande, von dem er vorher nur eine Meinung hatte« (208e). Wissen ist mithin ein Urteil, das ausreichend begründet wird; »Wissen ist Fürwahrhalten mit vollständiger Gewissheit« (Apelt, Anmerkungen zum Theaitetos, 188).
Platon kommt zu dem Resultat, dass dies noch keine wirklich guten Erklärungen sind. Der beste Ansatz immerhin sei der letzte: Wahre Erkenntnis ist eine gut begründete, zutreffende Meinung. Doch warum genügte Platon das nicht? Er argumentiert in seinen späteren Werken, dass eine subjektive Begründung – auch eine intersubjektive! – noch kein sicheres Kriterium dafür sein kann, ob die Meinung der Sache auch wirklich angemessen ist.
[65]In der Schrift über den gerechten Staat, der Politeia, hat Platon das erkenntnistheoretische Problem der Wahrheit in seinem berühmten Höhlengleichnis behandelt (Platon, Politeia, 514a ff.). Hier geht er über den methodologischen Nachweis hinaus, dass wahre Erkenntnis die rational begründete Ansicht sei, die wir von einem Sachverhalt haben. Er unterscheidet dafür metaphysisch zwischen Erscheinung und Wesen. Damit macht er die Unterscheidung zwischen dem, wie (uns) etwas erscheint, und dem, wie oder was es ist, plausibel. Die Bedingungen sinnlicher Wahrnehmung, die nicht nur ermöglichen, dass wir etwas wahrnehmen, sondern auch unsere Wahrnehmungen vorweg strukturieren, die Beschaffenheit unserer Sprache, unserer Sozialisation, der Ideologien, die uns die Welt erklären: Das schränkt unsere Erkenntnis ein. Die Situation, anhand derer Platon dies bildhaft erläutert, wirkt zunächst befremdlich. Wenn man jedoch bedenkt, dass ihn vermutlich der Arbeitsalltag der Sklaven in athenischen Silberminen zur Wahl dieses Bildes inspiriert hat, dann bekommt seine Parabel vom Erkenntnisprozess – als Geschichte von Herrschaft, Gefangenschaft und Verblendung auf der einen Seite, Befreiung und Aufklärung auf der anderen – etwas geradezu Beklemmendes.
In einer Höhle also sitzen Gefangene, die so fixiert sind, dass sie den Kopf nicht drehen können. In einem Gang hinter ihnen laufen Menschen mit Fackeln in den Händen auf und ab und reden miteinander. Die Lichtreflexe auf der Höhlenwand und das Echo ihrer Stimmen sind das Einzige, was die Gefangenen wahrnehmen. Wie bei Zuschauern im Kino sind ihre Blicke nach vorn gerichtet, und der Vorgang der Bildproduktion (bzw. Bildprojektion) geschieht hinter ihrem Rücken. Im Gegensatz zum Kinopublikum wissen [66]sie allerdings nicht, was hinter ihrem Rücken vorgeht. Ihre Realität besteht aus schattenhaft Gesehenem und echoartig Gehörtem. Ein Gefangener, der die Fesseln lösen und sich umdrehen kann, lernt nun, dass die wahrgenommenen Reflexe Ursachen haben, die sich erheblich von ihren Wirkungen unterscheiden. Wirklich existierende Menschen werfen Schatten auf eine Wand. Die Schatten sind zwar auch wirklich, nämlich wirkliche Schatten; doch ihre Wirklichkeit ist eine von etwas anderem abgeleitete. Sie ist eine Folgeerscheinung und im Hinblick auf das, was die Schatten repräsentieren und für was sie zuvor gehalten wurden, um viele Grade weniger wirklich. Nun ist zunächst das Licht der Fackeln das Medium der Wahrheit. Bald darauf jedoch entdeckt der Gefangene den Ausgang der Höhle und den Unterschied zwischen dem Licht der Fackel und dem Widerschein des Sonnenlichts im Freien. Nach anfänglichen Gewöhnungsproblemen hat sich das Unterscheidungs- und Urteilsvermögen wieder einen Schritt weiter differenziert. Der anschließende Blick ins Sonnenlicht selbst (selbstverständlich nicht bis zur Blendung) entspricht einem weiteren Fortschritt des Abstraktionsvermögens. So lernt der Gefangene, der sich selbst aus dem Dunkeln befreit hat, schrittweise zwischen der ungeschiedenen, dumpfen, wirren Vielfalt der Erscheinungen und den Strukturen und Prinzipien zu unterscheiden, die (frei nach Goethes Faust) ›die Welt im Innersten zusammenhalten‹. Diese Prinzipien hat Platon »Ideen« genannt. Er hielt sie für »die mit den Sinnen nicht wahrnehmbaren, ewigen und unveränderlichen Urbilder all der Gegenstände und Sachverhalte, die uns in unserer Welt, die wir mittels unserer Sinne auffassen, begegnen« (Decher 2015, 42).
[67]Platon war überzeugt: Die Philosophie kann das Wesen der Dinge sicher und zweifelsfrei erkennen, weil sich die Wesenheiten nicht verändern, sondern immer sich selbst gleich bleiben. Die Wesenheiten nannte er die »Ideen« und bestand darauf, dass sie selbst nicht stofflich sein können, sondern immateriell sind. Weil sie es ja sind, die allem Stofflichen zugrunde liegen, können sie selbst, Platon zufolge, nicht materiell, also vergänglich sein. Es wäre unlogisch anzunehmen, dass die Ursache, das Zugrundeliegende der bunten, vielfältig chaotischen und vergänglichen Materie von gleicher Qualität sei, denn dann wäre sie ja selbst ein Teil davon und deshalb als generierendes Prinzip nicht zu denken. Die Individuen, sofern sie besondere, einzelne Entitäten sind, verändern sich; aber die Idee des Menschen verändert sich nicht, sie bleibt immer die gleiche. Wenn man statt »Ideen« oder »Urbilder« von ›Begriffen‹ oder ›Konzepten‹ spricht, klingt das bereits erheblich weniger mythologisch. Und auch wer heute als Philosoph*in der platonischen Ideen- und Wesenslehre nicht mehr folgt, lässt deshalb normalerweise noch lange nicht von der Suche nach allgemeingültigen Kriterien des Wissens ab.
In unserem Zusammenhang kommt es auch nicht so sehr auf Platons Metaphysik der ewigen, unveränderlichen Ideen an als vielmehr auf die grundsätzliche Unterscheidung, die er im Bild eines Ideenkosmos und in der Erzählung von der Höhle dargestellt hat. Es ist demnach prinzipiell möglich und notwendig, zwischen dem, was man für gut halten kann und jeweils dafür hält, und dem, was gut ist, zu unterscheiden. Es kommt gar nicht darauf an, ob man mit dieser Unterscheidung empirisch immer (oder auch nur ein einziges Mal) richtigliegt. Es kommt allein darauf [68]an, dass niemand Richtlinien oder Kriterien für sein Handeln angeben könnte, ohne diese Unterscheidung implizit zugrunde zu legen. Wer sich in moralischen Entscheidungssituationen befindet, kann versuchen, zu tun, was sie oder er für gut hält, also das, was sie oder er als gut erkennen bzw. begründen kann. Auch wenn man nicht mehr, wie Platon, meint, dass die wahre Erkenntnis letztlich nur diejenige ist, die das wahre Wesen, die Idee, voll erfasst – und auch wenn man nicht mehr, wie Platon, davon ausgeht, dass es möglich ist, der Wahrheit überhaupt so nahe zu kommen (in der Wahrheit zu sein): Man kann (oder muss) das Prinzip der Unterscheidung zwischen Wahrheit (im Sinne von wahrer Erkenntnis) und dem, was uns wahr erscheint, anwenden bzw. zugrunde legen, damit man überhaupt erkennen, unterscheiden und kritisieren