Grundbegriffe der Ethik. Gerhard Schweppenhäuser
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Hier zeigt sich wirklich ein Dilemma. Der Ausdruck wird in der Alltagssprache gern dann verwendet, wenn es um schwierige Entscheidungen geht. Doch im philosophischen Sinn befindet man sich nur dann in einem Dilemma, wenn man sich zwischen zwei konträren, einander ausschließenden Handlungsmöglichkeiten entscheiden muss, deren Folgen man beide Male nicht wollen kann.
Kohlberg interessierte sich für die Überlegungen, die seine jugendlichen Proband*innen anstellten, um ihre Handlungsempfehlungen für Heinz zu begründen (bzw. um die erwartete Handlungsweise von Heinz aus ihrer Sicht zu bewerten). Er stellte fest: Es gibt eine Abfolge bestimmter Urteilsweisen, die nicht strikt an Altersstufen gebunden sind, aber in ihrem Erscheinen beim Individuum unumkehrbar sind. Sein Lehrer Jean Piaget hatte herausgefunden, dass sich das kognitive Urteil von Kindern und Heranwachsenden in einer bestimmten Abfolge entwickelt. Diese erlaubt ihnen zum Beispiel in einer frühen Phase nicht, zu begreifen, dass ein Kilo Federn genauso schwer ist wie ein Kilo Blei. Haben sie die Stufe erreicht, auf der sie Allgemeinbegriffe wie Gewicht und Volumen (oder z. B. allgemeine Maßeinheiten) erkennen können, operieren sie fortan immer mit diesen. Ähnlich stellte Kohlberg fest: Kleine Kinder gehen zunächst davon aus, dass es eine Art natürlicher Ordnung der Dinge gibt, in der jeder die Konsequenzen seines Handelns zu tragen habe. Auf der folgenden, frühsten Stufe der moralischen Urteilsweise hielten Kinder das für moralisch richtig, was die Erwachsenen anordnen, und dann etwas später das, was der Maximierung [75]von Lust und Wohlsein aller Beteiligten dient. Später ist das, was Heranwachsende für gerechtfertigt halten, an diejenigen Rollenvorstellungen und bestehenden Normensysteme gebunden, in die sie sozialisiert werden. Auf der dritten Stufe in Kohlbergs Skala sind das die Handlungserwartungen konkreter Personen aus der Bezugsgruppe, während sich Heranwachsende auf der vierten Stufe an jenen überlieferten Normensystemen orientieren, die sie kennen. Schließlich gehen sie laut Kohlberg zu einer moralischen Urteilsweise über, die sich an verallgemeinerbaren Moralprinzipien orientiert: Auf Stufe fünf hält man jene Handlungsweisen für gerecht, die vorteilhafte Resultate für die meisten Beteiligten erwarten lassen, während irgendwann einmal (Stufe sechs) die moralische Argumentation nur noch das als normativ richtig anerkennt, was mit einer universalistischen Pflichtethik in Einklang steht.
Kohlberg gliederte diese sechs Stufen der Entwicklung des moralischen Urteils in drei Ebenen. Die erste bezeichnete er als präkonventionelle, die zweite als konventionelle und die dritte als postkonventionelle Ebene (Kohlberg 1987). Er erkannte hier die Struktur der Entwicklung moralphilosophischer Reflexion im Abendland wieder, die zu Gesinnungs- und Prinzipienethiken vom Typus der Moralphilosophie Kants geführt hatte. Dort gelten nicht mehr traditionale Üblichkeiten einer Gemeinschaft, auch nicht das größte Glück der größten Zahl, sondern universalistische normative Prinzipien.
An dieser Stelle zeigt sich freilich die Grenze der Parallele zwischen onto- und phylogenetischer Moralentwicklung, denn der Utilitarismus wurde ja als soziopolitische Moraltheorie paradigmatisch erst nach Kant formuliert. [76]Allerdings kann man zugunsten der Parallelitätshypothese anführen, dass es individual-utilitaristische ethische Argumentationen auch früher gegeben hat; man denke nur an Platons Gorgias, wo Argumente gewechselt werden, um zu zeigen, dass es moralisch nicht gerechtfertigt ist, wenn sich der Stärkere kurzerhand nimmt, wessen er begehrt.
Dass sich die kulturell geprägten Hintergründe individuellen Handelns in Grenzsituationen katastrophisch oder tragisch auswirken können, zeigen nicht die Beispiele aus ethischen Lehrbüchern, sondern vor allem historische Erfahrungen, etwa solche, von denen Jorge Semprún in seinen Erinnerungen an das Konzentrationslager Buchenwald berichtet (Semprún 2002). In Buchenwald war der organisierte politische Widerstand mitunter in der Lage, Gefangene vor der Deportation in die Vernichtungslager zu schützen. Das geschah, indem die zur Deportation Selegierten heimlich gegen andere, todgeweihte Gefangene ausgetauscht wurden. Über Leben und Tod entschied, wie man zur KP stand. Die Struktur der nationalsozialistischen Lagerherrschaft zwang den im Widerstand organisierten Gefangenen tragische Handlungsalternativen auf. Deren Folgen kann man im Nachhinein als Heldentaten feiern, mit Parteidisziplin rationalisieren oder verurteilen. Dass jüdische, »unpolitische« Gefangene nicht gerettet wurden, damit politisch organisierte am Leben erhalten werden konnten, ist indessen historisches Faktum. Es darf ebenso wenig den Widerstandskämpfer*innen zur Last gelegt werden, wie es Gegenstand der Verklärung sein darf.
Zu Ehren der ermordeten Gefangenen des kommunistischen Widerstands wurde der Satz »Aus Eurem Opfertod wächst unsere sozialistische Tat« ins Weimarer [77]Thälmann-Monument gemeißelt, das auf dem heutigen »Buchenwaldplatz« steht. Der Ansatz, das System der Konzentrationslager als Vorstufe zum realen Sozialismus zu betrachten, war ein so verständlicher wie vergeblicher Versuch, einen geschichtlichen Sinn zu konstruieren, wo von einem solchen nur schwerlich noch die Rede sein kann. Hier begegnet man einer gewissermaßen spiegelverkehrten, historisch belehrten Variante jener rationalistischen Dilemmata, die belegen sollen, dass Menschen im Prinzip homini oeconomici sind, die in Ausnahmesituationen ihren persönlichen Vorteil hintanstellen können, was in der wirtschaftsliberalistischen Anthropologie wiederum als vorteilsorientiertes Handeln auf Umwegen (sei es zu den eigenen Gunsten, sei es zugunsten der Gattung) gedeutet werden kann. Die spiegelverkehrte Variante idealisiert nicht den nüchternen Akteur des aufgeklärten Eigeninteresses, sondern den Helden der mutigen Tat und des Opfers zugunsten des ›großen Ganzen‹.
[78]4. Ethik und Politik
Nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie ergriff die chinesische Staatsführung 2020 drastische Isolationsmaßnahmen, um das Tempo der Masseninfektion abzubremsen. Als die Pandemie nach Europa kam, reagierten die Regierungen unterschiedlich. Großbritannien setzte »zunächst auf minimale Intervention, […] womit vier bis sechs Prozent [der Bevölkerung] zugunsten der Aufrechterhaltung der Geschäftstätigkeit geopfert worden wären«, berichtete die Soziologin Eva Illouz (2020). Sie bezeichnet die Haltung der englischen Regierung zu Recht als »Ökonomismus« und resümiert:
Die beispiellose Wahl ist diese: entweder das Leben vieler älterer Menschen opfern oder das wirtschaftliche Überleben der jungen. […] Deutschland und Frankreich reagierten zunächst ähnlich und ignorierten die Krise, bis es nicht mehr ging (ebd.).
Schon bald wurden Worst-Case-Szenarien entworfen, in denen mit bis zu einer Million Todesopfer kalkuliert wurde, um zum Normalbetrieb in Wirtschaft und Gesellschaft zurückkehren zu können. Auf die Tagesordnung kam auch die Frage nach ethischen Kriterien, an denen sich Ärzte orientieren sollen, wenn sie angesichts knapper Ressourcen im Sanitätswesen entscheiden müssen, wer intensivmedizinisch behandelt und wer in den Tod geschickt wird. Allmählich schien sich in der europäischen Politik die Auffassung durchzusetzen, dass es moralisch skandalös wäre, das Leben von Schwachen und Verwundbaren für den Gang [79]der Geschäfte zu opfern. ›Vulnerabilität‹ wurde gleichsam zum politischen Wort des Jahres.
Darüber geriet in Vergessenheit, dass Verwundbarkeit ein universales menschliches Wesensmerkmal ist (Butler 2005, 48), nicht nur eines von partikularen sozialen Gruppen. Verletzbarkeit kann durchaus als »Fluchtpunkt der Ethik« (Stöhr [u. a.] 2019, 225) gelten, wie schon Arthur Schopenhauer lehrte. – Zu durchgreifender Konsequenz hat jene Einsicht indessen nicht geführt; so blieb etwa hierzulande die zeitweilige Schließung von Industriebetrieben als Maßnahme zur Eindämmung der Seuchenausbreitung tabu.
4.1 Entscheidungen, Mittel und Zwecke
Ethisches Handeln ist Handeln nach Grundsätzen, und zwar nicht gemäß irgendwelchen Grundsätzen, sondern nach solchen, die bestimmten Kriterien gehorchen. Jede ethische Entscheidung ist durch eine Abwägung von Mitteln und Zwecken gekennzeichnet. Können die Mittel, die anzuwenden sind – und die Ergebnisse, die ihnen voraussichtlich folgen –, durch die Zwecke gerechtfertigt werden, die man durch das Handeln verwirklichen will? Werden sie auch wirklich gerechtfertigt sein, wenn die beabsichtigten Handlungsfolgen eintreten? Das sind