Grundbegriffe der Ethik. Gerhard Schweppenhäuser

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Grundbegriffe der Ethik - Gerhard Schweppenhäuser Reclams Universal-Bibliothek

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Leiter der Salzburger Festspiele zu werden, was ihm erspart hätte, in die DDR gehen zu müssen, um angemessene Bedingungen für seine Theaterarbeit zu haben), ist im Rückblick entlarvend. Sie liefert vielleicht ein Indiz dafür, dass Kunst tatsächlich ein moralisches Potential besitzt, allerdings ein größeres, als es ihr moralisierende Festredner zusprechen. Der Verzicht auf eine philosophische (und das heißt: kritisch-rationale) Reflexion des Wertproblems, der die zitierten Wertebekundungen geradezu programmatisch kennzeichnet, erweist sich als belanglose polit-religiöse Rhetorik.

      Ähnliches lässt sich in einem neueren Beispiel für moralkritische Klagen über den ›Verfall der Werte‹ beobachten, das aus einem Zeitungsartikel über Probleme der Polizei stammt. Der Autor zitiert den Chef der Gewerkschaft der Polizei in Nordrhein-Westfalen:

      »Werteverfall, steigende Brutalität und eine sinkende Hemmschwelle gehören zu unserem Alltagsgeschäft«. Als Beispiel nannte er die steigende Zahl der Angriffe auf Polizisten. Ein Viertel dieser Angriffe habe sogar einen staatsfeindlichen Hintergrund, und es käme zu schweren Straftaten wie gefährliche Körperverletzungen. (Seher 2014.)

      [26]Die Rede vom Verfall der Werte richtet sich hier gegen mangelnden Respekt und gegen Gehorsamsverweigerung gegenüber der Obrigkeit bzw. den Repräsentant*innen ihrer Zwangsgewalt vor Ort. Bezeichnend an diesem Beispiel ist der direkte Zusammenhang, in dem die Verfallsklage mit dem Gewaltmonopol des Staates steht, dessen Sinn und Zweck ja die Absicherung bestehender Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse ist.

      Dass bewaffnete Zwangsgewalt als hoher Wert anzusehen sei, geht philosophisch auf die politische Ethik von Thomas Hobbes zurück. Hobbes beschrieb die Menschen als von Natur aus böse. Im fiktiven sogenannten »Naturzustand«, nämlich einem »Kriegszustand« (Hobbes 1651, 329), in dem es »keine staatlichen Gesetze« (681) gibt, würden die Menschen amoralisch agieren, nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Jeder reißt an sich, was er kann. Im permanenten Konkurrenzkampf denken alle nur an sich und ihren Vorteil. Alles dreht sich um das Eigentum und seine Verteidigung, keiner nimmt Rücksicht auf den anderen, alle sind egoistisch und asozial.

      Zu einer geordneten Zivilisation kann es unter Bürgerkriegsbedingungen nicht kommen, so Hobbes. Seine neuzeitlich-materialistische Philosophie ist in diesem Zusammenhang auch deshalb von Interesse, weil man sich verdeutlichen kann, wie die Vorstellung ethischer Güter sich in die Vorstellung ethischer Werte verwandelt hat. Bei Hobbes wird das Glück als oberstes Prinzip der Ethik durch das Prinzip der Selbsterhaltung ersetzt, an dem jeder Mensch ein natürliches Interesse habe (263). Glück und ein gutes Leben werden zu unverhofften Geschenken des Schicksals, auf das kein Verlass ist. Das einzige Ziel, auf das Menschen [27]ihr Handeln rationalerweise ausrichten können, sei das Überleben. Pure Selbsterhaltung avanciert zum höchsten Gut. Sie ist nur unter einigermaßen friedlichen Bedingungen möglich, argumentiert Hobbes, der im 17. Jahrhundert zur Genüge erfahren musste, was es bedeutet, in Bürgerkriegszuständen zu leben, die sich endlos hinzuziehen scheinen. Daher sei der bellum omnium contra omnes (der Krieg aller gegen alle, jener vermeintliche status naturalis) unter allen Umständen abzuwehren.

      Die praktische Philosophie von Hobbes ist indessen keine des Friedens und der Versöhnung; sie rechtfertigt Herrschaft und Zwang. Die Legitimität staatlicher Zwangsgewalt wird freilich an die freiwillige Zustimmung derjenigen gebunden, die sich ihr zu unterwerfen haben. In Hobbes’ Modell ist die Staatsgründung ein Vertragsschluss, bei dem die Individuen ihr »natürliches« Recht aufgeben: Sie verzichten darauf, sich alles zu nehmen, was sie wollen, und dies wird durch einen Zuwachs an Sicherheit ausgeglichen. Bei rationaler Prüfung würde jeder einsehen, dass er vom Ende des Kriegszustands profitiert, genauso wie alle anderen. Hobbes drückt es so nicht aus, aber der Sache nach ist klar: Die partielle Abschaffung bzw. Einschränkung der individuellen Freiheit, die der Zwangsgewalt des Staates zu unterwerfen sei, macht Freiheit zu jenem zentralen Wert, auf den sich die modernen Nationalstaaten des Westens bis heute berufen.

      Hobbes’ kontraktualistische Fundierung der Moral ist von einem Widerspruch gekennzeichnet, wie der Philosoph Gunzelin Schmid Noerr feststellt: Hobbes »gründete die Moral auf einen virtuellen Vertrag, den die Bürger frei miteinander geschlossen haben, sprach ihnen aber das [28]Recht ab, die vereinbarten Normen je infrage zu stellen« (Schmid Noerr 2006, 73). Der Einzelne wird als auf ganz sich bezogenes Individuum gedacht, das nicht durch Normen des Miteinanders gebunden ist. Um zusammenleben zu können, müssen sich alle Individuen Normen unterwerfen, deren Geltung sie freiwillig anerkennen, die aber durch eine übermächtige Zwangsgewalt abgesichert sind. Doch Hobbes kann nicht stringent darlegen, warum die Menschen ihren Eigennutz zurückstellen und moralisch handeln sollten. Er delegiert »das moralische Gewissen der Einzelnen« an den Staat und plädiert für eine »autoritäre Lösung der Interessengegensätze und Glaubenskonflikte« (74) im Gemeinwesen.

      Dass die Moral bei Hobbes letztlich auf Zwang gegründet wird, passt auf den ersten Blick nicht zur abendländischen Auffassung, der zufolge Moral ein im Prinzip freies, willentliches Handeln, innerlich reguliert, darstellt. Dieser Widerspruch kann auf die Spannung zwischen »individuelle[n] Interessen und gesellschaftliche[n] Sanktionen« (ebd.) zurückgeführt werden. Er kann als Ausdruck eines sozialen Widerstreits gelten, der in heutigen Konkurrenz- und Klassengesellschaften keineswegs verschwunden ist. Aus dieser Sicht hat Hobbes das marktradikale Menschenbild gerechtfertigt, das unsere heutige Gesellschaft kennzeichnet.

      Das Werte-Lamento ist offenbar auch unvermeidlich, wenn sich eine neue Jugendkultur durchsetzt: Gesellschaftliche Phänomene, die traditionell negativ beurteilt werden – z. B. Egoismus, Verweigerungshaltung und Konkurrenzmentalität oder Konsumismus, exzessiver Gebrauch neuer Medien und eine als hemmungslos empfundene Selbstbezogenheit –, werden dann gern auf den Verlust [29]verbindlicher Werte zurückgeführt. Dabei wird übersehen (oder verleugnet), dass es sich bei jenen Phänomenen nie um ein gänzliches Fehlen von Werten und Bewertungsweisen handelt, sondern lediglich um Umwertungen, die meist nicht bewusst reflektiert werden (Hilgers 2002). Der Pazifismus der Hippies in den 1960er Jahren wurde hierzulande mit Klagen über den Verfall der Werte kommentiert, und ganz ähnlich waren die Reaktionen auf den rassistischen Terror rechtsradikaler Jugendlicher seit den 1990er Jahren. Nun sind aber nicht nur love and peace, Toleranz und Multikulturalität Werte, sondern eben auch imaginierte nationale Identitäten, Rassenhygiene, ethnische Sauberkeit und heilige Kriegsziele – so unerfreulich das auch ist, wenn man diese Werte von einem modernen, aufgeklärten Standpunkt aus betrachtet. In der Gegenwart kehren sie als Orientierungsgrößen zurück, die zunehmend auch von jungen, völkisch gesinnten Menschen geschätzt werden, weil sich im Rekurs darauf ein regressiver Hass gegen Menschen mit anderer Herkunft, anderen Lebensgewohnheiten und anderen sexuellen Orientierungen rationalisieren lässt.

      Was manchen Beobachter*innen zunächst als eine Spielart der Jugendkultur erscheinen mochte, wuchs rasch zu einer ganz neuen Gestalt der öffentlichen Kommunikation an: die Netzkultur des digitalen Zeitalters. Kein Wunder, dass auch auf diesem weiten Feld die Klage über Werteverfall laut wurde. Hier geht es vor allem um gewandelte Formen des Umgangs miteinander und der Wertschätzung anderer. Allgemein wird der Verlust von Respekt und Anstand angeprangert. Durch die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit digitalen Endgeräten und Internetzugängen hat sich eine Social-Media-Öffentlichkeit [30]konstituiert, die in immer größerem Ausmaß auf journalistische Professionalität verzichtet. Kommentator*innen und Welterklärer*innen bilden ihre eigenen Formen der Mitteilung aus. Dabei haben sich die Phänomene des shitstorms, der hate speech und der cancel culture in den Vordergrund gedrängt. Sie scheinen dem Muster des Aufbegehrens von Schülern zu folgen, deren Tyrannen sich zurückziehen. Menschen mit Gewaltphantasien schreiben sich in den social media warm, wo sie kaum von gatekeepers behelligt werden. Der marktradikale Umbau der Medienlandschaft hatte ihre Kontrollinstanzen geschwächt. Dass sie in postmodernen Diskursen als altmodisch und moralisch-belehrend delegitimiert wurden, kam hinzu. Kurzatmiges Aufbegehren kann sich in diesem Klima als radikale Kritik gerieren (und sich selbst als solche missverstehen). Wozu soll man sich beispielsweise die Mühe machen und Kants Schriften studieren, wenn man doch kurzerhand darauf hinweisen kann,

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