Grundbegriffe der Ethik. Gerhard Schweppenhäuser
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In diesem Zusammenhang sei noch einmal die bedürfnistheoretische Moralanthropologie von Schlüter angeführt, der seinen Ansatz mit der, auf Arnold Gehlens zurückgehenden, sozialanthropologischen Entlastungstheorie kombiniert:
Habe ich […] hinreichend Erfahrung mit der Realisierungsmöglichkeit eines Wertes und mit der erprobten Abstufung der konkurrierenden Werte, so entlaste ich [37]mich unter dem stetigen Ansturm neuer Bedürfnisse und neuer Situationen, indem ich die gefundenen und erprobten Wege der Wertrealisierung und -abstufung normiere. Die Norm ist eine festgelegte Form der Wertrealisierung, die den Vernunftgebrauch entlastet. Eine so zustandegekommene Norm kann dann ihrerseits die Entstehung neuer Bedürfnisse verursachen, aber auch in ein Spannungsverhältnis treten zu einer inzwischen veränderten Bedürfnislage, weil diese naturgemäß zu einer neuen Wertehierarchisierung drängt, der Zweck der Norm aber darin besteht, gleichsam endlich mal Ruhe und Klarheit an der Bedürfnisfront zu schaffen. (Schlüter 1995, 177 f.)
Normen können demnach als sozial kodierte und sanktionierte Methoden definiert werden, mit denen man versucht, Werte zu verwirklichen.
2.3 Ethik und Moral
Das Spezifische des philosophischen Nachdenkens über Normen und Werte besteht darin, dass diese auf Prinzipien zurückgeführt werden und ihr universaler Charakter begründet oder problematisiert werden soll. Es wird also der Frage nachgegangen, was es mit dem schlechthin allgemein verbindlichen Geltungsanspruch auf sich hat, den Moralprinzipien, anscheinend naturgemäß, mit sich führen. Moralprinzipien, Werte und Normen beziehen sich stets auf Angelegenheiten, die tendenziell alle Menschen in vitaler Weise betreffen. Es geht, vereinfacht gesagt, um die Frage, wie wir leben sollen.
[38]In antiken Ethiken steht das Motiv des guten Lebens, also des Glücks, im Zentrum, in neuzeitlichen Ethiken das Motiv der Pflicht. Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, dass die Fundierung der Moral auf dem Prinzip der Selbsterhaltung einen wichtigen Zwischenschritt darstellt, den man als Indikator für die Individualisierungstendenz der europäischen Neuzeit bezeichnen kann.
Wird menschliche Glückseligkeit als die letzte Begründungsinstanz für moralische Ge- und Verbote verstanden, spricht man in philosophischer Terminologie von einer materialen Ethik. Ethiken, für die die letzte Begründungsinstanz ein Konzept unbedingt geltender Verpflichtungen anderen Menschen gegenüber ist, werden dagegen als formale Ethiken bezeichnet. Denn, wie Kant ausgeführt hat (siehe Kap. 10): Was Menschen als Glück bzw. als glückliches Leben empfinden, ist individuell sehr verschieden und jeweils an Inhalte gebunden, die nicht miteinander kompatibel sind. Demgegenüber ist das Konzept ethischer Verpflichtung als formales Konzept stringent verallgemeinerbar, denn es beruht nicht darauf, wozu wir im konkreten Einzelfall verpflichtet sind, sondern es hat den Charakter einer strikten Regel, die immer gilt. Kants prominentestes Beispiel dafür ist das Gebot, jederzeit die Wahrheit zu sagen.
Dazu später mehr; zunächst aber noch einige Bemerkungen über die Begriffe ›Ethik‹, ›Moral‹ und ›Moralphilosophie‹. Jeweils immer dann, wenn in der Ethik über Prinzipien, Begründungen und Anwendungen der Moral nachgedacht wird, kann man auch sagen, dass Ethik die Philosophie der Moral ist. Ethik bedeutet also etwa das Gleiche wie Moralphilosophie. Daher werden die beiden Ausdrücke in der Philosophie meist synonym verwendet.
[39]Das war aber in der Geschichte der Philosophie lange Zeit nicht der Fall. Denn zumeist verstand man unter ›Ethik‹ Tugendlehren oder die Lehre von den Gütern, die zu einem gelingenden Leben erforderlich sind. In älteren philosophischen Texten wird unter Ethik ›Sittenlehre‹ oder ›Tugendlehre‹ verstanden. Deren Gegenstand, die Moral, ist dann die Gesamtheit der bestehenden Sitten und der anerkannten Tugenden. Sitten und Tugenden sind indessen nicht das Gleiche. Die Sitten eines Gemeinwesens umfassen dessen kollektive Praxis (Hegel bezeichnete sie als daseiende »Sittlichkeit«), also alles, was in intersubjektiver Praxis üblich ist und als gerechtfertigt gilt. Heute würde man eher von der ›Kultur‹ als von der ›Sittlichkeit‹ eines Gemeinwesens sprechen. Tugenden hingegen sind Veranlagungen bzw. Dispositionen des Individuums. Die Antike verstand unter einer Tugend (griech. arete) eine Charaktereigenschaft, die positiv bewertet wird, wie z. B. Tapferkeit, Weisheit oder Gerechtigkeit. Ein tugendhafter Mensch war einer, dessen charakterliche Disposition insgesamt zum ›Guten‹ tendiert, worunter durchaus Verschiedenes verstanden wurde.
Ethos (mit kurzem e ausgesprochen) heißt bei Aristoteles so viel wie allgemeine Üblichkeiten, Gewohnheiten, Brauch. Der Begriff steht also für Sitte und Konventionen. Éthos (mit langem e) dagegen steht bei Aristoteles – der die Termini ἔθος und ἦθος erstmals systematisch im Kontext der Moralphilosophie verwendet hat – für die Haltung des mündigen Bürgers der Polis. Dieser folge mit seinem ethischen Urteilsvermögen, also indem er seine praktische Vernunft anwendet, nicht mehr bloß den Konventionen; er könne vielmehr in konkreten Situationen selbständig rational entscheiden, was moralisch richtig ist. Urteilsvermögen [40]und Einsicht machen seine moralische Kompetenz aus (vgl. Pieper 2000, 24 ff.).
Ethik ist also nicht Ethos, sondern die Theorie des Ethos. Der griechische Ausdruck éthe stand für ›Sitten‹, die lateinisch mores heißen. Joachim Ritters Historisches Wörterbuch der Philosophie, das begriffsgeschichtliche Standardwerk, stellt fest, dass der Ausdruck ›Moralphilosophie‹ auf die lateinische Übersetzung des griechischen Wortes ethiké zurückgeht. Diese Übersetzung stammt von Cicero, der den Ausdruck philosophia moralis erfand und damit den Begriff der Moralphilosophie terminologisch einführte (Ritter, Bd. 6, Sp. 149 ff.).
Der Philosoph Ernst Tugendhat meinte, die Übertragung des griechischen Wortes ethos in das lateinische moral (von mores) gehe auf einen Übersetzungsfehler zurück, der ἔθος und ἦθος in eins gesetzt habe: Auf diese Weise seien ›Charakter‹ und ›Sitte‹ versehentlich miteinander identifiziert worden (Tugendhat 1993, 34). Gegen diese Vermutung spricht jedoch, dass die Synonymie ganz treffend die Ambivalenz zum Ausdruck bringt, die in der Sache selbst steckt, denn sie steht für zwei Aspekte desselben Gegenstands: Ethos steht für Brauch, Sitte und Konvention, éthos für Charakter, als Tugend oder Grundhaltung des kompetent und eigenständig urteilenden Subjekts. Dem trägt die Doppeldeutigkeit der Adjektive ›moralisch‹ und ›sittlich‹ in der deutschen Sprache Rechnung, denn sie »können sowohl im Sinne von ἔθος wie von ἦθος verwendet werden« (Pieper 2000, 26 f.). Tugendhat irrt demnach, wenn er schreibt: »Die Herkunft des Wortes ›Ethik‹ hat also mit dem, was wir unter ›Ethik‹ verstehen, nichts zu tun.« (Tugendhat 1993, 34.)
[41]Die zweite Auflage von Rudolf Eislers berühmtem Handwörterbuch der Philosophie aus den 1920er Jahren definiert das Stichwort »Moralphilosophie« als »Ethik« und fährt daraufhin schlicht fort: »siehe dort«. Unter dem Stichwort »Ethik« findet man dann die wichtige Unterscheidung zwischen »empirischer« und »philosophischer Ethik«. Empirische Ethik beschreibt moralische Phänomene und versucht, ihre Entstehung zu erklären: Sie wird als »Moralwissenschaft, d. h. Psychologie und Soziologie« sowie »Entwicklungsgeschichte« des »sittlichen Verhaltens« definiert. Die philosophische Ethik dagegen bewertet ihre Gegenstände; sie wird definiert