Paul Schneider – Der Prediger von Buchenwald. Margarete Schneider

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Paul Schneider – Der Prediger von Buchenwald - Margarete Schneider

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Ich melde dem Betriebsführer, dass meine Zwecke hier schlecht gewahrt seien und ich anderswo arbeiten wolle.« – »Auf einem langen Instanzenweg vom städtischen Arbeitsnachweis bis zum untersuchenden Arzt gelang mir dies nach acht Tagen, und nun arbeite ich als ›dritter Mann‹ an einem großen Schmelzofen in Hörde« (Tagebuch). Paul wohnt in einem Ledigenheim und lernt die verschiedensten Arbeitertypen kennen. Alle Lebensbedürfnisse sind schrecklich teuer, und er will doch gerne Geld sparen, denn der Vater rückt ungern Geld heraus und ist der Inflation nicht gewachsen. »Die Organisation ist groß, die Industrie ist überwältigend. Und die Menschen sind klein. Hier ist die Feuerprobe, ob du dich, Mensch, behauptest. Der Mensch, der die Industrie meistert, muß riesenstark sein« (Tagebuch). Dies war der erste Eindruck. Nun war er Arbeiter unter Arbeitern. »Habe ich mir manchmal wohl eingebildet, ein Opfer gebracht zu haben, als ich unter die Arbeiter ging, so erleide ich tagtäglich mit meiner Selbstsucht wieder Niederlagen, gegen die Liebe verstoßend. Und immer wenn der Teufel der Selbstsucht mich beherrscht, dann bin ich krank und unentschlossen. Dann sagen die andern wohl: ›Komischer Mensch!‹ Es ist gerade, als ob ich besonders hässlich und eklig sein könnte im persönlichen täglichen Leben, nachdem ich versucht, mir die großen Richtlinien des Lebens nach großen Idealen zu gestalten. Hier gilt es jetzt, den alltäglichen Kleinkampf, um immer mehr ein Leben aus der Liebe heraus, zu führen. Dazu helfe mir Gott!« (Tagebuch).

      Pauls Körper wird immer mehr gestählt unter der schweren Arbeit. »Wie schmeckt auf Schicht ein Schluck kalten Wassers so gut! Was für ein Genuss ist in dem Brausebad nach Staub und Dreck der Arbeit enthalten! O kehr’ zurück zu dem göttlichen Gebot: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!« (Tagebuch). Fröhliche Ausflüge mit den Kameraden unterbrechen den Alltag. Aber dann wieder der Schrei. »Obwohl mir’s allmählich graut, so einsam zu wandern, treibt mich’s doch immer wieder dazu, denn keiner mag meine Interessen teilen. Mich ekelt die Einsamkeit, und mich ekelt die Gesellschaft der Menschen. Ich habe nichts mehr, alles ist mir Problem. Kapitalismus und Sozialismus, Religion und Leben. Ich stehe vor dem Nichts, vor dem völligen Ausgehöhltsein und Leersein. Meine Arbeitszeit ist bald zu Ende. Ich soll wieder predigen. Was soll ich predigen? Kraft von oben tut mir not, darum will ich beten!« (Tagebuch).

      Er kommt wieder heim. »Mit gemischten Gefühlen verließ ich Mitte August meine Arbeitsstätte. Auf unserer Stube hatten wir bei der Abschiedsfeier so etwas wie ein Gemeinschaftserlebnis. Und noch bis 4 Uhr morgens konnten wir vor den letzten Gedanken, die wir miteinander auszutauschen hatten, den Schlaf nicht finden. Um 6 Uhr brachten mich dann zwei von der Stube an den Zug. Ich glaube sicher, dass die innere Verbindung mit einigen unsere äußere Trennung lang überdauern wird. All die Liebe, die mir dort entgegengebracht wurde und die man in der rauhen Industrie- und Arbeiterwelt doppelt dankbar empfindet, kann ich gar nicht in geschriebene Worte bannen. Aber sie hat mir den Glauben an unser Volk und vor allem den Glauben an unsere Arbeiter gestärkt. So möchte ich dieses Vierteljahr im Ledigenheim um keinen Preis missen« (Brief vom 7. September 1922). Lange lässt ihn das Abschiedswort in Hörde »Du bist einer der Unsern, du solltest dableiben« nicht los. – Nun hilft er in Hochelheim dem niedergedrückten und zitterigen Vater treulich im Amt, hilft dem guten Sophiechen bei der größer gewordenen Landwirtschaft; das Pfarrland wird selbst bewirtschaftet, eine Kuh steht im Stall. Im Oktober 1922 reist Paul nach Weilheim bei Tübingen zu unserer Verlobung. – Dann kommt ein Jahr des geistigen Schaffens im Predigerseminar in Soest, seine eigentliche theologische Schule!

      Schon in seinem Bericht vom Ersten Theologischen Examen an die künftige Schwiegermutter schreibt P. S.: »Für November jedenfalls war Herr Generalsuperintendent so gütig, mir eine der fünf frei werdenden Stellen im Predigerseminar zu Soest zu versprechen. Ich bin sehr froh darüber, denn dieses Seminar soll im Unterschied zu vielen anderen auch wissenschaftlich auf der Höhe sein. Ein Jährlein dort und dann noch ein halbes in der Vorbereitung auf das 2. Examen, zu dem mir die Koblenzer Herren gute Hoffnung machten, wird meiner vorläufigen Ausbildung dann wohl ein Ziel setzen.«

      Soest liegt nicht im Rheinland, sondern in Westfalen. Die Rheinische Kirche hatte kein eigenes Predigerseminar. Sie hatte mit der Westfälischen Kirche eine Vereinbarung, nach der jeweils fünf Vikare aus der Rheinischen Kirche in das Predigerseminar in Soest aufgenommen wurden. Dort konnten Vikare mit qualifizierten Theologen ihre ersten Erfahrungen im Gottesdienst, im Religions- und Konfirmandenunterricht, bei Hausbesuchen und am Sterbebett durchdenken.

      »Die Ordnung, Ruhe und geistige Arbeit des ›Kloster‹-Aufenthalts empfinde ich als sehr wohltuend, wenn« – und das ist nun noch ein Nachklang von Hörde – »ich sie nur so recht mit ganz reinem Gewissen genießen könnte.48 Auf Schritt und Tritt atmen wir hier die schwere Luft längst vergangener Zeiten« (Tagebuch November 1922). Offenen Sinnes nimmt Paul die Schönheit der ehrwürdigen Stadt in sich auf. »Ich stehe hier dauernd in geistig-wissenschaftlicher Verbindung mit Tübingen, da wir Schlatters Dogmatik in der Systematischen Theologie49 behandeln … Von den Kollegs 50 hat mir am meisten das Systematische über Schlatters Dogmatik gegeben. In Tübingen hatte ich Schlatter nicht verstanden 51 und war an seinen Kollegs vorübergegangen, und als in Soest nun Schlatter behandelt werden sollte, war ich zuerst enttäuscht, um ihn dann während des Semesters immer mehr und mehr schätzen zu lernen. Hand in Hand geht damit eine Wandlung meiner eigenen theologischen Ansichten. Ich glaube, ein bisschen verstanden zu haben, was die Positiven zu sagen haben, und möchte mich selber meiner Grundstruktur nach auch eher positiv als liberal nennen. Im eigenen Sündenbewusstsein erschließt sich uns mit absoluter Geltung die Gottheit und Erlöserkraft Jesu Christi« (Brief vom 8. April 1923).

      Adolf Schlatter52, dessen biblische Theologie für P. S. erst in Soest fruchtbar wurde, ist aufgrund seiner auffallenden Eigenständigkeit in die gängigen Muster theologischer Forschung schwer einzuordnen. Da er immer »aufs Ganze ging«, die gesamte Wirklichkeit in Natur und Geschichte als Werk Gottes verstand, bezog er in seine Arbeit auch die Dogmatik, d. h. die systematische Glaubenslehre, die Ethik und die Philosophie mit ein. Seine eigentliche Bedeutung liegt aber auf dem Gebiet neutestamentlicher Wissenschaft und der Geschichte des antiken Judentums. Seine Auslegungen bezogen sich ganz auf die »Geschichte des Christus«, der Menschen zum Glauben bewegt. Da Schlatter auch für interessierte Laien alle Bücher des Neuen Testaments auslegte – diese Bände erlebten viele Auflagen und wurden auch in neuerer Zeit mehrfach nachgedruckt –, war und ist der Einfluss dieses originellen Außenseiters der wissenschaftlichen Theologie auf Pfarrer und interessierte »Laientheologen« groß.

      Was Schlatters Werk »Das christliche Dogma« betrifft, so schreibt sein Biograf Werner Neuer53, Schlatter habe immer die Auffassung vertreten, »dass der Verzicht auf die Dogmatik die religiöse Gemeinschaft zerstört. Es gibt keine Gemeinde ohne Dogma, ohne zur gemeinsamen Anerkennung gelangte Überzeugungen.« Je schwankender, je bewegter die Frömmigkeit in der Gemeinde sei, desto wichtiger werde für das Leben der Kirche die Dogmatik. Dabei gehe es vor allem darum, was die Bibel uns heute sage. Schlatter verstand sich selbst immer auch als Lehrer der Kirche.

      Ende 1910 hat Schlatter seine Dogmatik vollendet. Sie sollte nicht abstrakte Lehren darbieten, sondern auch »wegweisende Normen« formulieren, die das Glaubensleben des Christen und der Kirche tragen könnten. Es geht ihm also auch um die Gestaltung des christlichen Lebens. In einer Art »Theologie der Tatsachen« bezieht Schlatter, wo es geht, die erfahrbare Realität von Natur, Mensch und Geschichte in seine Darstellung des Glaubens mit ein. Offenbar haben auf den Vikar Schneider besonders die Kapitel 61 bis 64 Eindruck gemacht, in denen Schlatter eindrücklich, aber durchaus nicht bedrückend, die Sünde und Schuld des Menschen beschreibt. Schlatter behält dabei immer Jesus Christus im Blick, der »der Welt Sünde trägt«.

      Seine Dogmatik ist auch »missionarisch«. Sie soll alle Menschen ansprechen, nicht nur bei Kirchenleuten und frommen Christen Glauben wecken. »Wir haben zu erkennen, um zu glauben, und zu glauben, um zu erkennen.«

      Aber auch in Soest geht es für Paul durch viel Dunkelheit und Not, die den Starken, oft Übermütigen und fröhlich in der Arbeit Stehenden ganz verwandeln. »Das Allerschwerste für das Menschenherz

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