Gänseblut. Wolfgang Santjer

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Gänseblut - Wolfgang Santjer

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alte Mann ging um das Haus herum und betrat den Stall durch die Außentür. Sie drohte aus den Angeln zu fallen. Als ich noch gesund war, dachte der Mann, hätte ich das sofort repariert.

      Er stöhnte unwillkürlich auf, als er den leeren Stall sah. Früher hatten sie zwei Kühe gehabt, Hühner und Kaninchen. Alles weg, versoffen von seinem faulen Sohn.

      Der Alte zog den Wehrmachtsmantel aus und wickelte den Karabiner darin ein. Seine Andenken an diesen elenden Zweiten Weltkrieg. Später würde er das Gewehr auseinandernehmen, putzen und einölen, so wie er es bei der Wehrmacht gelernt hatte. Das Paket versteckte er sorgfältig im alten Kaninchenkäfig an der Stallseite. Die geschossenen Gänse legte er daneben. Die Türchen verriegelte er mit einem Vorhängeschloss. Morgen würde es wieder Gänsebraten geben. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er ging zu der einfachen Holztür, die den Stall mit der kleinen Wohnküche verband, und zog dort seine Stiefel aus. Die Tür war niedrig und er musste sich bücken, um hindurchzugehen.

      Als er den Wohnraum betrat, richtete sich nur sein Körper auf, seine Stimmung blieb unten. Die Enge in den Arbeiterhäusern war bedrückend. Die Decke war nur zwei Meter hoch. Jeder kleine Winkel wurde benötigt. Die Kartoffeln lagerten deshalb unter den Schlafbutzen an der Seite des Raums. Rote Backsteine dienten als Fußboden.

      Im Raum standen ein alter Stangenherd, ein Tisch und ein Ostfriesensofa. Der alte Mann schüttelte verzweifelt den Kopf. Andere Arbeiterhäuser waren längst abgerissen oder renoviert worden. Kein Wunder, dass seine Schwiegertochter es hier nicht mehr ausgehalten hatte.

      Dieser Taugenichts hatte wieder alles hinter sich liegen lassen. Seit seine Schwiegertochter nach Süddeutschland geflohen war, ging hier alles zum Teufel. Sein Sohn lag auf dem durchgelegenen Ostfriesensofa. Die ungepflegten Haare, das schmutzige Unterhemd, und er trug auch noch die schmutzigen Gummistiefel aus dem Stall … Auf der Wachstuchtischdecke standen eine leere Flasche Korn und etliche Bierflaschen.

      Von seinem sechsjährigen Enkel keine Spur. Sicher hatte er sich wieder auf dem Heuboden im Stall versteckt. Das Beste, was er tun konnte, um seinem besoffenen Vater aus dem Weg zu gehen.

      Der alte Mann ging zurück in den Stall. »Hallo, mein Junge, hier ist Opa«, sagte er, als er die Leiter hinaufstieg. Er achtete darauf, wohin er trat, der Boden war an vielen Stellen morsch. Im Bodenraum stand Gerümpel, unter anderem ein alter wackeliger Hörnstuhl. Darin saß sein Enkel und lächelte ihn an. Durch ein Loch im Dach fiel ein wenig Licht auf ein aufgeschlagenes Buch, das der kleine Junge in der Hand hielt. Ein Buch von seiner Mutter.

      »Opa, wann kommt Mama zurück?«

      Der alte Mann nahm seine Taschenuhr und einen kleinen Schlüssel in die Hand. Er sah seinen Enkel bittend an. »Ziehst du deinem Opa noch einmal die Uhr auf?« Das war ein Ritual zwischen den beiden. Meistens benutzte er es, um von einer Sache abzulenken.

      Während sein Enkel den Deckel der Taschenuhr öffnete und den kleinen Schlüssel in die Aufzugsöffnung steckte, strich sein Großvater ihm übers Haar. »Die Taschenuhr ist von meinem Vater und später«, er räusperte sich, damit seine Stimme den traurigen Klang verlor, »später wird sie einmal dir gehören. Hast du mitgezählt? Nur siebenmal den Schlüssel rum, sonst wird die Feder krumm.« Sie lachten immer an dieser Stelle. Sein Enkel lächelte ihn an und gab ihm die Uhr und den kleinen Schlüssel zurück.

      »Opa, die anderen Kinder sagen, dass du ein Wilderer bist.«

      »Wir armen Leute müssen doch auch leben. Der Dollart und die Tiere gehören niemandem und deshalb nehme ich für uns einen kleinen Teil.« Dieses Thema behagte dem älteren Herrn nicht, wieder Zeit für eine Ablenkung. »Stell dir vor, was ich heute im Dollart gefunden habe, mien Jung?«

      »Opa, was hast du denn gefunden?«

      »Ja, mien Jung, ich glaube, ich habe den Kirchturm von Torum gefunden! Dieses sagenhafte Dorf, das damals versunken ist, ich hab dir doch davon erzählt.«

      Der Junge klappte das Buch zu und sah ihn erwartungsvoll an.

      »Also, ich lauf durch das Watt und plötzlich spüre ich unter meinem Fuß einen Stein. Ich bück mich und tatsächlich ist es nicht nur ein Stein, sondern der Rest einer Mauer aus Backsteinen! Nicht so mickrige, wie wir sie jetzt haben – ganz große Steine wie die, aus denen man früher die alten Kirchen und Klöster baute. Leider hatte ich nichts zum Graben dabei. Aber morgen soll es wieder Nebel geben und dann geht dein Opa noch mal los. Ich finde bestimmt einen Schatz und dann bauen wir hier alles wieder auf.«

      »Kommt Mama dann zurück?«

      Der nächste Tag, im Dollart

      Der Dollart: circa 121 Quadratkilometer in der Fläche (elf Kilometer Nord/Süd, elf Kilometer Ost/West). Bei Niedrigwasser fallen 70-80 % des Dollarts trocken. Die Grenze zwischen den Niederlanden und Deutschland verläuft durch den Dollart. Die deutsche Seite beginnt bei Pogum und endet an der Grenze bei Nieuw Staatenzijl (Richtung Nord-Süd). Ungefähr drei Kilometer von der Landecke Pogum entfernt liegt die kleine Bohrinsel Dyksterhusen (siehe Karte Nr. 1). Auf dieser künstlichen Insel wurde früher nach Gas gebohrt. Genau genommen handelt es sich um eine Halbinsel, weil eine kurze Straße die Insel mit dem Festland verbindet. Im Norden, von der Bohrinsel aus gesehen, liegen der Geisedamm und die Ortschaft Pogum, im Süden die Wattflächen des Kanalpolders bis zur niederländischen Grenze.

      Die beiden Jäger waren auf der Pirsch. Aber diesmal nicht nach Gänsen oder Enten, nein: nach diesem verfluchten Wilderer. Auf der Bohrinsel stellten sie den Wagen ab. Sie zogen ihre Gummistiefel an, überprüften ihre Waffen und überlegten, wie sie vorgehen wollten.

      Gestern hatten sie wieder Schüsse gehört. Der Nebel war ideal für den Wilderer. In dieser weitsichtigen Landschaft hatte er sonst keine Chance, unentdeckt zu bleiben. Der Dollart war groß und jetzt mussten sie auf ihr Glück setzen, um den Mann zu erwischen. Sie waren sich einig, dass sie getrennte Wege gehen wollten. Ein Jäger lief in nördliche, der andere in südliche Richtung. Schon nach kurzer Zeit verloren sie sich im Nebel aus den Augen.

      Im ehemaligen Kuhstall des alten Arbeiterhauses hatte der alte Mann seinen langen Mantel angezogen und darunter sein Gewehr versteckt. Auf dem Weg zum Deich war ihm sein Sohn nachgelaufen und es war zu einem heftigen Streit gekommen.

      »Dann geh doch«, hatte sein Sohn ihm hinterhergeschrien, »eines Tages kommt du nicht zurück. Entweder der Jagdaufseher erwischt dich, oder du fällst in einen Priel und ersäufst!«

      Sein Sohn hatte es nötig, ihn zu beschuldigen. Dieser Althippie. Es blieb ihm doch nichts anderes übrig, als zu wildern.

      Nun stand er auf dem Deich und sah sich um. Links lag die Bohrinsel Dyksterhusen verborgen durch die Nebelfelder. Rechts der Geisedamm. Dieser lange Steindamm trennte die Ems vom Dollart. Von Pogum aus verlief der Damm in westliche Richtung. Am westlichen Ende liefen Dollart und Ems wieder zusammen.

      Den Geisedamm konnte er ebenfalls im Nebel nicht sehen. Der Nebel war für ihn ideal. Er lief den Deich hinab­, kletterte über einen Weidezaun und überquerte die Salzwiesen. Als sie in das Watt des Dollarts übergingen, vermischten sich die Geräusche seiner Schritte mit den Nebelsignalen von Schiffen auf der Ems. Die Schreie der Vögel klangen seltsam gedämpft und die kalten weißen Schwaden berührten sein Gesicht so sanft und eisig wie Geisterhände. Auch bei diesem Wetter war der Dollart wunderschön. Es war, als sei er alleine auf der Welt, eingehüllt von Wolken in seinem eigenen Kosmos.

      Aber die düsteren Gedanken holten ihn ein. Der Streit mit seinem Sohn ging ihm nicht aus dem Sinn. Das beklemmende Gefühl konnte er nicht abschütteln. Er konzentrierte sich

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