Ich bin, was ich werden könnte. Mathias Wais

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Ich bin, was ich werden könnte - Mathias Wais

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in der Praxis kaum handhabbar ist. Und ein bloßes Referieren von dazu vorhandener Literatur erschien mir nicht sinnvoll.

      Erwähnen möchte ich noch, dass eine weitere Quelle meiner biographischen Verständnisbemühungen die – durch keinerlei kunstwissenschaftliche Vorbildung getrübte – Auseinandersetzung mit Werken der modernen Kunst ist. In der jahrelangen Beschäftigung mit dem Werk etwa Alexej Jawlenskys, Camille Claudels, Phillip Glass’, Béla Bartóks oder Wilhelm Lembrucks habe ich, so scheint es mir, mehr über die menschliche Entwicklung und das Lebenslabyrinth gelernt als im Studium der Psychologie. Zu solcherart fruchtbaren Kunstwerken zähle ich neben dem schon erwähnten Film Orlando (die Buchvorlage von Virginia Woolf hat einen anderen Akzent als der Film) auch den Film Le Bal, der davon erzählt, wie rätselhaft gleich man sich doch über die Jahre, Jahrzehnte und über die verschiedenen Erdengänge bleibt – bei allem Weiterschreiten, bei aller Entwicklung.

      Dankbar für das anhaltende Interesse der Leser und mit Unterstützung durch den Verlag Johannes Mayer, Stuttgart, bringe ich dieses Buch in einer leicht überarbeiteten und um vier Kapitel erweiterten Fassung neu heraus.

      Im Januar 2001

      Mathias Wais

      Teil I

      Coming

      I am coming! I am coming!

      I am coming through!

      Coming across the divide to you

      In this moment of unity

      Feeling an ecstasy

      To be here, to be now

      At last I am free

      Yes at last, at last

      To be free of the past

      And of a future that beckons me

      I am coming! I am coming!

      Here I am!

      Neither a woman, nor a man

      We are joined, we are one

      With a human face

      We are joined, we are one

      With a human face

      I am on earth

      And I am in outer space

      I’m being born and I am dying

      Sally Potter,

      Schlussgesang aus Orlando

      1

      Das Zukunftselement in heutigen Schicksalen und die biographische Krise

      Unter welchem Gesichtspunkt wird man einen Lebenslauf sinnvollerweise betrachten? Zunächst scheint es nahezuliegen, den schon abgeschlossenen Lebenslauf etwa einer Künstlerpersönlichkeit aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts oder den sich gerade entfaltenden Lebenslauf eines Zeitgenossen unter einem historischen Gesichtspunkt anzuschauen: Wie ist alles geworden? Wie kam der Künstler zu seiner Malweise, mit welchen Stilrichtungen hatte er Berührung, mit welchen Kollegen sich auseinandergesetzt, aus welchem persönlichen Erleben hat er ein bestimmtes Thema in seinen Bildern immer wieder aufgegriffen? Oder: Wie kommt es, dass mein Nachbar nicht verheiratet ist und allein in dem großen Haus wohnt? Welche Beziehungserlebnisse haben ihn dazu gebracht? Wie war das mit seinen Eltern? Was haben sie ihm hinsichtlich der Belastbarkeit von Beziehungen vorgelebt?

      So könnte man fragen. Das wäre eine historische Frageweise: Wie ist es dazu gekommen, dass es jetzt so mit meinem Leben steht? Man stellt, wenn man historisch fragt, die Frage nach der Ursache, nach der Verursachungskette. Wieso ist es so, wie es ist? Und man sucht die Ursachen in der Vergangenheit.

      Es war eines der großen Verdienste der Psychoanalyse, dass sie kausale Zusammenhänge zwischen Erwachsenenleben und Kindheitserlebnissen aufzeigen konnte. Mittlerweile gehört es zum allgemeinen Bildungsgut, seelische und zwischenmenschliche Gegebenheiten kausal-logisch anzuschauen: Weil mein Vater mich damals nicht ernstgenommen hat, deshalb traue ich mir heute nichts zu. – Weil der Maler X zwei Jahre die Malschule von Y besuchte, deshalb hat er später diesen Malstil entwickelt.

      Seit rund hundert Jahren scheint die historische Betrachtungsweise zunehmend nicht mehr auszureichen, um Lebensläufe zu verstehen. Diese kausal fragende, nach einer Verursachungskette fragende Sicht hat sich als richtig und wichtig herausgestellt. Aber sie kann nur begrenzt sichtbar und verstehbar machen, wie sich der moderne Mensch in seinem Lebenslauf individualisiert.

      Lebensläufe waren bis in die jüngste Vergangenheit, von einigen Ausnahmen – Künstlern insbesondere – abgesehen, nur wenig individuell. Sie waren vor allem typenhaft und vorgezeichnet. Sie waren auch gar nicht dazu geeignet, in ihnen so etwas wie Individualisierung zu suchen. Und weil sie hauptsächlich typenhaft, gruppenhaft, klassen- oder ständetypisch waren, war ihr Ablauf aus der Vergangenheit bestimmt: aus den althergebrachten Werten und Traditionen. – Wieso bist du ein Schuster? – Weil mein Vater ein Lederhändler war. – Wieso hast du diesen Mann geheiratet? – Weil unsere Eltern befreundet waren und nebeneinander wohnten.

      Insofern ein solcher Lebenslauf »typisch« ist und man, vor allem, »Typisches« in ihm erwartet, reicht die historische Betrachtungsweise aus. Insofern aber seit dem 20. Jahrhundert Lebensläufe immer mehr das Typische verlieren und zunehmend Individualisierung im eigenen Lebenslauf gesucht wird, braucht es noch einen weitergehenden Gesichtspunkt, wenn wir einzelne Biographien in ihrer individuellen Gestaltung verstehen und sie beratend begleiten wollen.

      Biographiearbeit, Biographieberatung ist in den letzten Jahren nicht entstanden, um bessere Erklärungen für einzelne Lebensläufe zu finden, sondern aus dem Wunsch heraus, Biographien als etwas Zielgerichtetes anschauen zu können. Es wuchs das Bedürfnis nach einer Sichtweise oder Haltung, die es erlauben würde, Biographien auf ihre Sinnhaftigkeit befragen, miterleben und beratend begleiten zu können.

      Dieses Bedürfnis, einen Sinn im Lebenslauf erkennen und das Leben auch nach diesem Sinnverständnis führen zu können, spitzt sich natürlich in drängender Weise zu, wenn man in eine persönliche Krise gerät, wenn man nicht mehr weiter weiß. Dann will man eben nicht bloß wissen: Wie ist es nur dazu gekommen, dass ich nun so übel dran bin? Sondern man will heraus aus dieser Krise, man will ihren Zusammenhang mit der Fortführung des eigenen Lebens sehen. Man fragt nach ihrem Sinn. Und das Bedürfnis nach einer Antwort hat enorm zugenommen.

      So kommt Herr K. zur Beratung mit der Frage, was er wohl falsch gemacht habe: Ihm ist, fast fünfzigjährig, zum ersten Mal in seinem Leben gekündigt worden. Voraus ging eine eskaliernde Distanzierung seitens der – meist jüngeren – Kollegen. Er wurde »gemobbt«, immer mehr abgeschnitten vom Informationsfluss der betrieblichen Abläufe, auch vom sozialen Leben im Betrieb und schließlich mit lächerlichen Beschäftigungsaufträgen gedemütigt. Herr K. sucht in der Beratung Orientierung in einem Augenblick, da ihn sein Weg in eine Sackgasse geführt zu haben scheint und noch nicht annähernd erkennbar ist, wie es mit ihm weitergehen könnte.

      Wie weit ist ihm geholfen, wenn man nun für seine Situation nach kausalen Erklärungen sucht? Vielleicht lässt sich als »Ursache« des Problems seine Herkunftsfamilie heranziehen: Herr K. wuchs in einer sogenannten Patchwork-Familie

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