Ich bin, was ich werden könnte. Mathias Wais

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Ich bin, was ich werden könnte - Mathias Wais

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wiederum klein, unbedeutend und wie überflüssig daneben stehend. Das Thema, um das es geht, spitzt sich also noch einmal zu – wie wir überhaupt oft finden, dass das, was als Krise erlebt wird, noch gar nicht der eigentliche Umbruch ist, sondern im Gegenteil zur letzten Zuspitzung, ja zur Karikatur dessen führen kann, was schon lange anwesend war.

      Herr K. konnte erst in der erneuten Zuspitzung erkennen, worauf diese Krise hinaus wollte: Sich nicht mehr da heraus zu definieren, was er für andere war, ob er ihnen wichtig war oder nicht, sondern unabhängig von anderen seine Prägungen, Erfahrungen und Fähigkeiten einzusetzen und sich in dieser Unabhängigkeit zu erkennen. – Nach einer Umschulung wurde er Unternehmensberater und war bald so gefragt, dass er es sich aussuchen konnte, welche Aufträge er annehmen wollte.

      In dieser Auflösung der Krise liegt kein Patentrezept, sondern nur das für diese Individualität jetzt Sinnvolle. Für andere Individualitäten in ähnlicher Situation kann anderes sinnvoll sein. Immer aber wird die tätige Selbsterkenntnis darin bestehen, die Sprache der Krise so zu hören, dass ein Klang aus der Zukunft ertönt.

      2

      Das individuelle Urbild

      Es geschieht immer mit einer gewissen Scheu, wenn man sich über den geistigen Wesenskern eines Menschen äußert. Es geht um sein »Höheres Ich« oder »Höheres Selbst«, sein Urbild. Es ist das Individuellste an einem Menschen und damit das Intimste.

      Wenn ein Mensch aus der Not, der Krise, aus dem Scheitern sich zu dem wesenhaften Kern seiner selbst durchringt, so ist das immer ein bewegendes Ereignis. Dieses auf den Weg zu bringen und versuchsweise zu begleiten, ist der wesentliche Inhalt der Biographieberatung. Natürlich geschah schon immer und geschieht dieser Durchbruch auch ohne solche Hilfe. Jemand ringt sich zu einer schweren Entscheidung durch, und es ist, als käme da einer in einem erhöhten Sinne nach Hause – zu sich selbst. Er selbst mag es so erleben, als habe da schon jemand auf ihn gewartet. Und in der Tat: Er selbst, sein Urbild hat da schon auf ihn gewartet, zu dem er sich gerade erst durchgerungen hat, zu dem er sich gerade erst aufgerichtet hat. Und er empfindet: Jetzt erst bin ich Ich.

      Wenigstens ahnungsweise weiß oder empfindet jeder Mensch, dass es eine »normale«, das heißt überwiegende Zeit im Vordergrund stehende Seite seiner selbst gibt und eine erhöhte Seite, die sich nur in Momenten des Übergangs, des Aufraffens vergegenwärtigt.

      Worum handelt es sich bei dieser erhöhten Seite, dem Urbild, und worum handelt es sich bei dieser alltäglicheren Seite eines Menschen? Zunächst einmal bin ich natürlich das, was ich und andere tagtäglich an mir erleben, was ich von mir weiß, was ich an mir kenne. Diese Seite des Menschen kann man das Alltags-Ich nennen. Es erkennt sich in der Erinnerung. Dass ich weiß, wovon ich geprägt bin, dass ich mich von meinen Eltern, dem elterlichen Milieu herleite; dass ich die Vorzüge und die Schattenseiten meines Temperaments kenne; dass ich in mir das gleiche Holz erkenne, aus dem alle Menschen der Gegend, aus der ich stamme, geschnitzt sind; dass ich weiß, was mir sympathisch ist, was unsympathisch; dass ich meine Vorlieben und Abneigungen kenne; dass ich meine Gewohnheiten und Sicherheiten habe; dass ich vermeide, was mir Unsicherheit bedeuten würde; dass ich meine Überzeugungen und politischen Meinungen habe – all das ist mein Alltags-Ich. Wenn mich jemand fragt, wer ich bin, wenn ich mich jemandem beim Kennenlernen vorstellen will, dann erzähle ich ihm davon.

      Nun hat das vorangehende Kapitel gezeigt, dass dies – entgegen dem alltäglichen Anschein – noch nicht alles sein kann, was einen Menschen ausmacht. Es war zu sehen, dass besonders in Situationen der Krise, des Übergangs noch etwas anderes aufscheint. Die Krise, so wurde dargelegt, besteht ja eben darin, dass das Alltags-Ich nicht mehr weiterhilft. Es greift nicht mehr, was es sich bis dahin erworben oder was es als Grundausstattung mitgebracht hat: Fähigkeiten, Erfahrungen, Eigenschaften. Der Entwicklungsschritt, der nun ansteht, kommt nicht aus dem Alltags-Ich.

      Das Alltags-Ich kann auch logischerweise nicht der Entwicklungsmotor sein. Biographie wäre dann nämlich nur die ständige lineare Fortschreibung dessen, was es bereits von sich kennt. Sie wäre eine Fortschreibung des Gewordenen. Das Alltags-Ich, das sich nur aus der Erinnerung kennt, besteht aus Gewordenem, aus Elementen also, die ihre Entwicklung schon hinter sich haben. Der Entwicklungsschritt besteht aber darin, dass jetzt, indem es sich aufrichtet, etwas qualitativ Neues in das Leben kommt. Der Entwicklungsschritt geht über das Gewordene hinaus.

      Um es, der Deutlichkeit wegen, etwas schärfer auszudrücken: Das Alltags-Ich ist Gewordenes, Geronnenes, es ist immer gekennzeichnet durch ein Element der Erstarrung. Was früher vielleicht errungen und erobert werden musste, ganz individuell von mir, das ist jetzt, da ich es errungen habe und zu meinem Inventar zähle, typisch geworden, typenhaft. Es ist eine Art Maske, deren Wesen es ist, das Individuelle zu verbergen. »Persona« heißt im Lateinischen »Maske«. Das Wort leitet sich her von »personare«: hindurch-tönen. Also meine Persona, mein Alltags-Ich, das ist die typische Seite an mir. Dahinter gibt es noch eine individuelle Seite, die in Momenten des Übergangs durch mein Alltags-Ich hindurchtönt.

      Das Wesen des Alltags-Ich ist Beharrung, Verbleiben bei dem, was man von sich kennt. Das Wesen des Höheren Ich ist die Wandlung. Das Höhere Ich weiß um alle Sinnmöglichkeiten, die sich in meinem diesmaligen Erdenleben vergegenwärtigen könnten. Es hält den roten Faden – tatsächlich sind es immer mehrere rote Fäden – meines Lebens in der Hand, es kennt meine Geburtsimpulse und Lebensaufgaben, für die ich angetreten bin. Das Höhere Ich ist der Geistkern, der von Erdenleben zu Erdenleben wandert, jedesmal verändert und bereichert um die Erfahrungen, die eine bestimmte Individualität in einem Erdenleben mit sich gemacht hat und deren Quintessenz nun weitergetragen wird in den Ansatz eines erneuten Erdenlebens.

      Das Höhere Ich ist die einzige Instanz im Menschen, deren Wesen Vorausblick, Vorangehen und Suche nach weiterführender Wandlung ist. So ist dieser innerste Kern, obwohl nie so direkt anschaubar und zugänglich wie das Alltags-Ich, der natürliche Verbündete des Beratenden in der Biographieberatung.

      Unter den anderen Instanzen bewegt sich das Gefühl in der Sphäre des Reagierens und kommt insofern immer hinterher. Auch da, wo es um das Fühlen von Zukünftigem geht, um Vorausahnung, Befürchtung und Angst, auch Vorfreude, sind wir in der Sphäre des Reagierens: Das Gefühl braucht einen vorgängigen Inhalt – der auch nur vorgestellt sein kann –, auf den es antworten kann. Darin liegt nichts Verkehrtes, aber auch nichts Richtung-Gebendes.

      Und dann die Gewohnheiten im Tun und Denken: Sie leben erst recht aus der Vergangenheit. Man tut oder denkt etwas, weil man schon lange so tut und denkt und weil es sich bewährt hat. Auch diese Ebene im Menschen sucht das Neue nicht. Sie sucht das Geregelte, Feste, allgemein Anerkannte und persönlich Bewährte.

      Schließlich die physische Seite des Menschen: Sie in eine Wandlung hineinzunehmen, ist das Schwierigste. Manchmal erlebt man es: Jemand blüht körperlich auf in einer neuen Begegnung; jemand verjüngt sich über seine seelische Bewegung hinaus bis ins Leibliche, weil er geliebt wird. Aber auch in dieser Situation geht die Wandlung nicht von der Ebene des Physischen aus.

      Es ist nur das Höhere Ich, das die Wandlung sucht und sie auch impulsieren kann. Nur das Höhere Ich sucht die Zukunft. Mit ihm zunehmend – wenn auch nie endgültig, so doch annäherungsweise – in Übereinstimmung zu kommen, könnte ein Sinn unseres Lebens sein.

      Dadurch, dass uns ein Höheres Ich gegeben ist, sind wir immer mehr, als wir leben. Das Höhere Ich enthält immer wesentlich mehr Möglichkeiten, als wir verwirklichen. So hat jedes Menschenleben eine unabschließbare Tendenz. Es trägt einen »Überschuss« in sich, Möglichkeiten, die nie Gegenwart werden, eine Größe, die real oft nicht erreicht wird. Daraus ergibt sich die wesenhafte Zukunftsorientiertheit eines jeden Schicksals und jeder Schicksalssituation. Da ist immer etwas, das ich noch nicht bin.

      Üblicherweise

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