Ein Zeitalter wird besichtig. Heinrich Mann
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Читать онлайн книгу Ein Zeitalter wird besichtig - Heinrich Mann страница 18
Aber obwohl er von Anfang an besser als die Lohnarbeiter bezahlt wurde, teilte er dennoch ihr Lebensgefühl, und teilte es beständig. Es kostete ihn Aufrichtigkeit, aber keine Überwindung, damit er aus seinen, scheinbar glücklichen, Umständen eine arme, umgetriebene Gestalt ans Licht zog: sie war nun der wirkliche Mensch. Nicht seine bürgerliche Existenz, nur die lächerliche, reizende, bedauerns- und liebenswerte, die er fortan spielte, war wirklich. Die Gestalt verkörperte, bewahre, daß er es gewollt hätte, sittliche Forderungen. Das Publikum, höchst zweifelhaft gesonnen, nahm der Gestalt zuliebe Mahnungen hin, – jedem anderen hätte es sie verboten.
Es konnte nicht ausbleiben, daß die Bedeutung der Gestalt, die zuerst als wehmütiger Spaß gedacht war, ihrem Urheber aufging; daß sie über ihn Macht gewann, ihn selbst zu einem Geisteskind und Empörer machte: das letzte was er jemals von sich erwartet hätte. Da zeigt er, in einem seiner späten Filme, die Arbeit am laufenden Band – ein schauerlicher Wettlauf des Menschen mit der Maschine, eine groteske Atemlosigkeit, nur erträglich, weil grotesk. Offen, kaum noch statthaft, erklärt sich die Drohung: so geht das nicht lange. So wird mit Menschen nicht verfahren.
Chaplin, in Amerika verhaßt bei allen, die für das laufende Band sind, ist Engländer geblieben. Kommunist, nein. Seine Begabung ist die Moral.
Auch der Dean of Canterbury ist nicht Kommunist. Westeuropäer werden es in der östlichen Bedeutung selten sein; der ganze Antikommunismus ist gegenstandslos. Der Priester, ein normaler Einverstandener, durchaus kein abseitiger Kritiker, erfreut sich einer christlichen Erfüllung: das ist die »neue Demokratie der Arbeiterschaft, als eines Bollwerkes der Sowjetfreiheit«. Das meint, anders gesagt: »Die Armut muß man kennen, um sie zu verstehn.« The very reverend Hewlett Johnson hat, wie manche Intellektuellen beim Beginn dieses Zeitalters, selbst die Probe gemacht, er hat körperlich gearbeitet mit den Mühseligen und ihre rauhe Art der Existenz auf sich genommen.
Seither kennt er das »gefährliche Leben«: es ist allein bei den Kämpfern um das tägliche Brot. Die Feinde der Arbeiter und Enteigner fremder Nationen haben das Wort nur geschändet. Für nichts und wieder nichts fallen, noch lieber andere in den Tod schicken, ist kein gefährliches Leben. Man drückt sich vielmehr von dem harten, aber normalen Leben.
Seither weiß er um Ziele, – die natürlich noch fern sind, aber es kommt darauf an, sie zu sehen. »Den Unterschied zwischen Hirn- und Handarbeit aufheben, dadurch daß Arbeiter so viel lernen wie Ingenieure«, ist real und erreichbar. – »Das junge Volk kontrolliert die Faktoreien, Werkstätten und wissenschaftlichen Arbeiten« wird geistig vorausgesetzt, nicht deutlich angeschaut. Seinesgleichen, gesättigt mit Wirklichkeit, hängt doch immer an Träumen. Ein weiser Skeptiker, der er zum Glück nicht ist, hätte aber niemals den endgültigen Satz gefunden, – aus Traum und Erfahrung formt sich die lautere Wahrheit:
»Ein Land, wo es arme Leute gibt, ist nicht frei.«
Der very reverend betet die Freiheit an, wie seinen Gott selbst. Er gibt wahrhaftig keinem Liberalen nach, sein Dafürhalten wird eher sein, daß sie von Freiheit nur dahinreden und getünchte Gräber sind. Er läßt nichts ab und die sozialen Bürgschaften sind ihm heilig, um so mehr, da sein Land unter den Ländern mit kapitalistischer Klassenherrschaft das letzte ist, wo sie noch eingehalten werden. »Den Arbeitern steht es frei, die Arbeit niederzulegen, obwohl der Hunger sie meistens zwingt, doch wieder zu arbeiten.«
Stolz trotz allem. Engländer geblieben, ungeachtet des glänzendsten Vorbildes dort draußen. Will auch die Pressefreiheit. Unter den gewohnten Umständen ist sie die schroffe Umkehrung der Freiheit: das wird nicht hindern, sie eines Tages richtig zu wenden.
Ein Volk, das lernt und liest, wird keine betrügerische Publizistik der überreichen Interessen mehr haben. Die Interessenten sind weg, und was sie zu sagen hatten, verfiele dem Gelächter. Die Sowjetunion mit ihrer Unzahl von Büchern und den Konsumenten der Bücher nimmt die europäische Zukunft voraus, sie ist schon unsere Nachwelt. Unter den meistgelesenen der heutigen Autoren nennt der britische Priester auch mich: ich bin ihm innig dankbar. Es ist Tatsache: ob ich wollte oder nicht, solange Europa – »Deutsch-Europa« – mir verschlossen bleibt, habe ich ein einziges Feld: Sowjetrußland.
Ich habe es mit Romanen, in denen das Wort Kommunismus weder vorkommt noch dem damals bekannten Sprachgebrauch angehörte. Der Kommunismus, wie seine Heimat ihn versteht, ist mehr als nur ein politisches Bekenntnis. Die Bücher, die ihm Genüge tun, zeugen von einer Anschauung des Menschen, seiner Lage, seiner Bestimmung, die erstens wahr ist, zweitens unsere Würde hebt. Das ist alles. Mehr muß man nicht haben oder tun, um – gegenwärtig allein in Sowjetrußland – populär zu sein.
Die Kommunisten regieren das Reich nur so lange, bis, nach der Definition Lenins, jede Köchin das Regieren erlernt hat. Was Lenin definiert und der englische Priester sich zu eigen macht, ist die moralische Reife: das Erwachen eines Volkes bis zur sittlichen Männlichkeit, die innere – und praktisch experimentierte Zuversicht, daß sie erreichbar sei.
Statt Kommunismus sage man Moralität. Der Kommunismus als Technik der Einrichtungen wäre kein Gegenstand der erregten Neugier. Seine sittlichen Hintergründe sind es. Umgekehrt ist jeder Antikommunist an der Moral durchaus unbeteiligt. Dasselbe gilt für den Antichristen, Antiintellektuellen, es trifft viele Antifaschisten, die nichts weiter sind. Gegen dies und jenes gerichtet – wird man nichts wesentlich anderes als die Widersacher. Was man gerade ablehnen soll, bedingen die Umstände, es ist auswechselbar. Standhaft erhält die Moral. Nur sie macht fruchtbar.
Der Dean of Canterbury hat über den Diktator Stalin das Gute und Rechte gesagt: er ist kein Diktator. Er wäre es, wenn er, gleich den faschistischen Machthabern, die Diktatur für ein Ende, ja, für das Immerwährende hielte. »Sein persönliches Verdienst ist die nationale Freiheit, sie ist seiner größten Werke eines.« Der Brite meint: Freiheit einer Nation ohne arme Leute. Er meint: Freiheit einer Nation mit hohem sittlichen Anspruch.
Der Herr von 1895
Ich bin ihm einmal begegnet, oder weiß nur von dem einen Mal, da unsere frühesten Erlebnisse die späteren überschatten: damals gingen wir in so viel Sonne – und bedauern sie nicht weiter. »J'ai vu tant de soleil«, sagte Stendhal, als er des schönen Italien müde war.
Mein Bruder zählte erst zwanzig Lenze, ich ein paar mehr, man schrieb 1895; da sahen wir über Piazza di Spagna in Rom einen Herrn kommen. Es war ein Herr, neben ihm wurde jeder Beliebige weniger als das. Hierüber verständigten wir uns sogleich; wir hatten den wahrhaft herrschaftlichen Typ erblickt. Unverkennbar war er ein Brite.
Im heimischen Deutschland war uns seinesgleichen nicht vorgekommen, existierte übrigens nicht. Um dieselbe Zeit, dies habe ich nie vergessen, trugen ein deutscher Gelehrter und meine Wenigkeit unsere Namen in das Fremdenbuch des Gasthauses von Tivoli ein. Unseren Beruf gaben wir mit »Globe trotters« an. Tags darauf fanden wir gleich darunter geschrieben: »Graf und Gräfin Sowieso, globe riders.« Sie betonen ihren Vorrang, weil sie nicht immer auf ihren Füßen tippelten, sondern zu Hause ihre Ackergäule ritten. Trotzdem hatte der Mann einen Bauch, die Frau keine Figur.
Unnütz, den Herrn zu beschreiben. Hakennasen, aufgeschossene Gestalten ohne Fett kann man haben. Niemand, außer unserem Lord, der auch ein Kaufmann aus Birmingham sein durfte, besaß in Haltung, Gang und Mienen diese einfache Selbstgewißheit. Ungewollt ist sie da; ein Eigenlob wie »globe riders« widerspräche ihr. So frei von Neugier war nur das eine Gesicht: es verglich nicht. Es ließ das andere – das andere sein. Sich an Menschen und Dingen messen, lag keineswegs im Sinn des Herrn.
Das alte römische Weltreich, über dessen Mittelpunkt er zur selben Stunde schritt, war aus seinen Gedanken abwesend. Nicht, daß er es verachtet hätte; Verachtung ist eine Abart von Interesse. Ihn ging es nichts an.