Der Rattenzauber. Kai Meyer

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Der Rattenzauber - Kai  Meyer

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Errungenschaft, und niemand, den ich kannte, hatte es zuvor mit eigenen Augen gesehen oder gar seine furchtbare Wirkung studiert. Sicher, Gerüchte kursierten an den Höfen, doch taten sie das über allerlei Zauberzeug, und keiner wusste, was wahr und was erlogen war. Das Feuerpulver jedenfalls schien höchst wirklich zu sein, und viel mehr als das Leid des dummen Pöbels beschäftigte mich die Frage, wie ein zerlumpter Ketzer gerade hier, an diesem Außenposten höfischer Macht, in seinen Besitz gelangen konnte.

      Während ich über die Hauptstraße zurück zum Osttor und von dort aus entlang der Stadtmauer zu den Häusern der Reichen im Süden ritt, kam mir ein Gedanke, der mir zuvor gänzlich entgangen war.

      Zwar hatten sich zahlreiche Zuschauer zur Hinrichtung des Ketzers versammelt, doch etwas hatte an dem Bild nicht gestimmt, das sich mir bei meiner Ankunft auf dem Marktplatz bot. Dies war nicht der erste Feuertod eines Unglücklichen, dem ich beigewohnt hatte, doch bei allen Übrigen hatten vor allem die Kinder Begeisterung für das erregende Schauspiel gezeigt.

      Nicht so in Hameln. Kein einziges Kind war um die Flammen gesprungen, keine Jungen und Mädchen hatten sich zum Reigen am Feuer getroffen.

      Und so erwies sich ein zweites Gerücht vom Hofe Heinrichs als seltsame Wahrheit: Es gab keine Kinder in Hameln.

      Sie waren alle verschwunden.

      Eine schmale Marktstraße führte in weitem Schwung an der südöstlichen Stadtmauer entlang. Rechts und links standen Fachwerkbauten aus Holz, vor deren Türen und Fenstern Händler ihre Stände aufgeschlagen hatten. Hatte man den neuen Marktplatz in der Stadtmitte zweifellos eher als Versammlungsort geplant, war diese Straße der Ort, wo Handwerk und Gewerbe ihren Sitz hatten. Hameln mochte abgelegen sein, fern der großen Siedlungen, doch war die Stadt im Besitz der einzigen Weserbrücke weit und breit, sodass es eine Vielzahl fahrender Kaufleute gab, die hier Rast machten und für einige Tage ihre Ware feilboten. Das Angebot an Stoffen und Gebäck, an Weinen, Waffen und tönernen Gefäßen war reichhaltig, hinzu kamen allerlei Utensilien für den Gebrauch in Küche, Werkstatt und Wohnraum, von Kisten über Felle bis hin zu Gewürzen aus dem Orient – zumindest bestanden die Verkäufer auf derlei exotischer Herkunft. Die enge Gasse war voll von Menschen, die aufgeregt aus ihren Häusern geeilt waren. Die Kunde vom Unglück auf dem Marktplatz verbreitete sich schneller als der Wind, der den Odem von Feuer und verkohltem Fleisch über die Stadt wehte. Der Donner musste weit über Hameln hinaus zu hören gewesen sein, und nun machten sich die Männer und Frauen auf, um herauszufinden, was geschehen war. Der Regen presste den schwarzen Qualm des Feuers als graue Dunstwolke auf die Gassen nieder, so war es unmöglich, weiter als zehn, fünfzehn Schritte zu sehen. Alles redete aufgebracht durcheinander, und manch einer deutete auf mich und meine rußbefleckte Kleidung.

      »Was ist geschehen?«, sprach mich eine Vettel an.

      Ich blickte vom Pferd auf sie herab und erwog für einen Augenblick, zu antworten. Schließlich aber schien mir dies zu Zeit raubend. Ich wollte nicht länger als nötig in der Stadt bleiben und hoffte, dass mir der Statthalter des Herzogs all meine Fragen beantworten konnte. Vielleicht würde es nicht einmal nötig sein, ein Nachtquartier zu suchen. So also ließ ich die Alte unbeachtet stehen und trieb mein Pferd zur Eile an.

      Schließlich hatte ich das Menschenvolk hinter mir gelassen. Die Gasse machte einen Knick nach rechts von der Stadtmauer fort, ich aber ritt weiter entlang des Befestigungswalls.

      Das Haus des Statthalters Graf Albert von Schwalenberg war nicht zu übersehen, so man einmal der engen Gasse bis zu ihrem Ende gefolgt war. Linkerhand wuchs hinter einem schmalen Streifen versumpfter Wiese die dunkelbraune Stadtmauer in die Höhe, rechts beugten sich schmale Fachwerkhäuser unter der Last des ewigen Regens. Der Boden war aus gelbem Lehm, zweifellos einst festgestampft, nun aber wie alles andere von schwerer Feuchtigkeit durchtränkt. Die Hufe des Pferdes sanken einige Fingerbreit ein, und jedem Schritt folgte ein widerlich schmatzender Laut.

      Der Sitz des Grafen war eines der wenigen fertig gestellten Steinhäuser in der Stadt. Es besaß zwei Stockwerke, wobei sich das obere einen halben Schritt über das Erdgeschoss hinausschob. Obenauf saß ein hohes Dach, aus dem dort, wo die Außenwand an die Stadtmauer stieß, ein kleiner Turm mit Zinnenkrone ragte wie ein zu groß geratener Kamin. Die Fassade war mit farbigen Malereien bedeckt, fantastischen Darstellungen alter Sagen und Legenden, denen eines gemeinsam war: Stets ging es um den Traum vom Fliegen. Ich erkannte den König des Zweistromlandes auf dem Rücken seines Riesenadlers, den er zuvor aus einer Schlangengrube befreit hatte; da war der orientalische Herrscher, der über seinem Thron ein hohes Gerüst voll mit Fleischstücken errichten ließ und hungrige Adler über seinem Kopf fesselte, sodass sie beim verzweifelten Bemühen, zum Fleische aufzusteigen, den Thron mit in die Lüfte hoben; auch der große Alexander schwebte mit einem Greifengespann über die Fassade des Hauses, gleichfalls Herzog Ernst, dem Ähnliches im vorigen Jahrhundert gelungen sein sollte; selbst Ikarus raste aufwärts zur Sonne. Mich erschütterte, dass auch unser Herr Jesus seinen Platz auf der Mauer gefunden hatte – seine Himmelfahrt war in prallen, hässlichen Farben gleich über dem Eingang festgehalten. In solch schaurigem Sammelsurium erschien mir dies nur wie die schamlose Spitze aller Blasphemie. Welch ein Mensch konnte hinter solchen Wänden wohnen, durchsetzt vom Kampf gegen Gottes Gesetz?

      Ich stieg vom Pferd und band es an einem Gestänge vor dem Haus an. Dann trat ich zur Tür und pochte laut. Nichts regte sich. Konnte es sein, dass der Graf mit den übrigen Stadtoberen im Rathaus weilte, um den Tod des Ketzers zu verfolgen? Plötzlich schien mir dies ganz selbstverständlich, und ich fluchte auf meine eigene Dummheit.

      Im selben Augenblick aber erklang von oben die Stimme eines Mannes. »Was wollt Ihr?«, fragte er grob.

      Ich trat einige Schritte zurück, stürzte fast, als ich knöcheltief im Dreck versank, und blickte hinauf zum Dach. Auf dem Turm war eine Gestalt erschienen, deren Züge ich durch Regen und Rauch nicht erkennen konnte. Ich hoffte inständig, dass es sich bei dem unflätigen Kerl um einen Diener handeln mochte, wenngleich mir die grässliche Ahnung kam, dass es durchaus der Graf höchstpersönlich war, der dort oben finster vorm Himmelgrau dräute.

      »Seid gegrüßt«, rief ich mit gebührender Höflichkeit. Es fiel mir schwer, länger hinaufzublicken. Der Regen brannte in meinen Augen.

      »Wer seid Ihr?«, fragte der Mann, bevor ich mich erklären konnte.

      »Robert von Thalstein, Ritter des Herzogs Heinrich und von ihm entsandt. Ist dies das Haus des Grafen von Schwalenberg?«

      »In der Tat«, entgegnete der Mann. Rauchschwaden schoben sich für einen Augenblick um den Turm und umhüllten seine Spitze wie ein schwarzer Blütenkelch. Ein raues Husten drang hinab auf die Gasse. Ich konnte nicht umhin, eine gewisse Genugtuung zu verspüren.

      »Warum seid Ihr hier?«, fragte der andere schließlich. Ärger über so viel Misstrauen lag in meiner Stimme, als ich antwortete: »Ich bin nicht befugt, meine Order durch ganz Hameln zu schreien. Ich bitte daher höflichst, mich einzulassen. Als treuer Diener des Herzogs droht Euch von mir keine Gefahr.«

      »Keine Gefahr?« Dies schien den Mann zu belustigen. Als mein Blick erneut dem Regen trotzte, war die Gestalt vom Turm verschwunden. Kurz darauf hörte ich, wie die Haustür von innen entriegelt wurde. Graue, eingefallene Züge erschienen im Türspalt. Statt mich endlich hereinzubitten, sagte der Mann: »Und Ihr seid ein Ritter des Herzogs?«

      »Das erwähnte ich schon.« Dann erst wurde mir klar, dass mein Gegenüber sich offenbar lustig machte. Sein Blick glitt über meine triefende Kleidung und das arme Pferd, von dem das Wasser in glitzernden Rinnsalen strömte. Mein Bündel, obgleich mit Leder umschlungen, war zweifellos ebenso durchdrungen von der scheußlichen Nässe wie alles andere in dieser elenden Gegend.

      »So tretet denn ein«, bat der Mann und fügte hinzu:

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