Von einem, der auszog, einen Staat aufzubauen. Martin Heipertz
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So fühlt es sich an, wenn Geschichte geschieht, dachte ich zufrieden und sah mich ein wenig an die Zeit der Wende und meine Eindrücke des Jahres 1989 erinnert. Zwischen dem hin und her brandenden Verkehr und einer dichten Menge von Fußgängern erreichte ich einen kleinen Platz. Fast ausschließlich Männer waren unterwegs, mit dunklen Haaren und Augen, die meisten auch dunkel gekleidet. Doch einige Grüppchen von Jugendlichen rannten zwischen den Männern kreuz und quer, schwenkten ihre Fahnen, lärmten in die Nacht hinein und ließen gelegentlich eine Silvesterrakete in den schwarzen Himmel steigen. In der Menge bewegte sich außerdem ein besonderes Völkchen, das mit Photoapparaten, Kameras und Mikrophonen auf der Jagd nach schönen Bildern umherlief: Reporter der internationalen Nachrichtenagenturen, Fernsehsender und Zeitschriften. Ihre Übertragungswagen und Antennenschüsseln waren am Rande des Platzes versammelt und versicherten allen Anwesenden nochmals eindrücklich, daß sie einen historischen Moment zu erleben im Begriffe standen und die Augen der Welt sich für einen kurzen Wimpernschlag auf das richteten, was gerade jetzt in Priština geschah. Mir jedoch zerstörte die Anwesenheit der Reporter den Eindruck des Besonderen. Immer wenn eine Kamera auftauchte, wurden die Menschen schlagartig zu schlechten Schauspielern. Sie versammelten sich vor der Linse, und ihre Ekstase war nur mehr gespielt. Sie vollzogen ihre Veitstänze nicht nur vor dem Objektiv, sondern für das Objektiv. Genauso gut hätte sich ihr Verhalten auf den glücklichen Ausgang eines Fußball-Länderspiels beziehen können, fand ich und war enttäuscht ob der plötzlich greifbar gewordenen gekünstelten Banalität der gesamten Situation. Es war wie bei Heisenberg: Die Beobachtung eines Gegenstands verändert die Eigenschaft desselben.
Gerade, als ich Überlegungen zum Abendessen anstellen wollte, erhielt ich eine Kurznachricht von Veronika Winzmann. Sie kam vom Ratssekretariat der EU und war für unser Aufbauteam so etwas wie die Mutter der Kompanie. Über eine persönliche Empfehlung hatte sie maßgeblich meine Rekrutierung für diese Aufgabe betrieben. Zuletzt hatten wir uns in Brüssel bei meinen Einstellungsgesprächen gesehen, seither standen wir per E-Mail zu allen vorbereitenden Fragen in Kontakt. Nun erkundigte sie sich, ob ich gut eingetroffen sei und Lust auf ein gemeinsames Abendessen habe. Sogleich sagte ich zu, erhielt eine Wegbeschreibung als Antwort und fand mich kurz darauf in einem gemütlichen Restaurant inmitten einer kleinen, munteren Tischrunde wieder.
In Priština konnte man als Macchiato-Diplomat zu meiner freudigen Überraschung vielerorts vorzüglich und dazu preiswert essen. Die Gastwirte waren findungsreiche Improvisationskünstler und offen für kulinarische Einflüsse aus ganz Europa – nicht zuletzt, weil viele von ihnen als Flüchtlinge oder Gastarbeiter in den Küchen aller Herren Länder gearbeitet hatten. Die Gastronomie ist einer der für Flüchtlinge am ehesten zugänglichen Bereiche unseres überregulierten Arbeitsmarktes, und sie bedarf nur geringer Sprachkenntnisse. Die dort empfangenen Anregungen verquickten die Wirte, zurück in der Heimat, mit der kulinarischen Tradition des Balkans, die vor allem für frisches, herzhaftes und reichhaltiges Essen mit gegrilltem Fleisch stand. Dazu floß das gute, kühle Peja-Beer aus der deutschen Brauanlage in Strömen, für gewöhnlich gefolgt vom ortsüblichen Raki, wie die Albaner den Slibowitz nennen.
Zwischen Serben und Albanern herrschte die gleiche große Nähe in den Bereichen der Gaumenfreuden und der Musik wie zwischen Griechen und Türken oder zwischen Iren und Engländern, Bayern und Tirolern, Israelis und Libanesen. Natürlich würde jede Seite diesen Schluß weit von sich weisen, aber nach einem ausgiebigen Gastmahl in einem serbischen Restaurant und tags darauf einem ähnlichen Erlebnis in einem traditionellen albanischen Betrieb mit Tanz und Musik wären Verwandtschaft und Freundschaft dieser Völker jedem Außenstehenden plausibler erschienen als ihre erbitterte Feindschaft. Nur Schweinefleisch gab es bei den Albanern keines. In der Regel waren sie keine strengen Moslems, aber zumindest diese Vorschrift des Propheten befolgten sie penibel.
Später fuhren wir daher manchmal in die neben Priština gelegene serbische Enklave Gračanica. Dort konnte man erstens das bedeutende Frauenkloster besuchen, das mitsamt seinen Fresken von einer Handvoll junger, blonder, schwedischer KFOR-Hünen mit Knabengesichtern bewacht wurde. Zweitens konnte man in einem der wenigen, aber grundsoliden Straßenlokale Schweinefleisch essen und beim Metzger eine Wurst kaufen.
In dem Kloster war auf einem der bis über das sechzehnte Jahrhundert hinaus zurückzudatierenden Fresken die Höllenfahrt der Sünder dargestellt, und diese waren anhand ihrer Tracht gut als Türken zu erkennen. Den Abbildern der Heiligen hatten die Nachfahren der türkischen Gefolgsleute in einem späteren Zeitalter die Augen ausgekratzt, und ich war erzürnt über die zahlreichen Spuren des Vandalismus auch aus jüngster Zeit, die in der Kirche zu sehen waren.
Zu unserer Tischrunde an jenem Anfangsabend in Priština, da ich noch unvoreingenommen war, gehörten neben einem farblosen Herrn von der Kommission eine Europa-Abgeordnete der deutschen Grünen sowie ihr Lebensgefährte, ein pensionierter Oberstleutnant der Bundeswehr, Panzertruppe. Beide verfügten über Balkan-Erfahrung zuhauf und erzählten mir als Neuling gerne davon.
»Ich war damals im Krieg die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen«, hub die Abgeordnete an. »Das heißt, ich durfte für Joschka Fischer die Kastanien aus dem Feuer holen. Stellen Sie sich vor – die Partei der Friedensbewegung zieht in den Krieg! Nein, das können Sie sich gar nicht vorstellen, was ich zu hören bekam. Aber wir sahen, daß die Serben 1999 drauf und dran waren, hier im Kosovo einen Völkermord an den Albanern zu begehen. Hunderttausende Flüchtlinge …«
»Die meisten von ihnen aber erst in der Zuspitzung durch das Bombardement«, warf ich ein. »Und diese Operation Hufeisen der Serben sei ja bis heute fraglich, habe ich gelesen. Jedenfalls war ich für die deutsche Innenpolitik seinerzeit froh, daß es die Grünen traf und im nachhinein fast erleichtert, daß wir Konservativen im Jahr zuvor die Wahl verloren hatten. Denn dieser Krieg mit deutscher Beteiligung unter einer bürgerlichen Regierung – da wären Sie doch über uns hergefallen, das hätte Lichterketten von Flensburg bis München gegeben. Die Ostermärsche und das alles, Nato-Doppelbeschluß inklusive, wären wie ein laues Lüftchen erschienen im Vergleich zu dem Budenzauber, den Sie entfacht hätten, wenn wir das an Ihrer Stelle hätten machen müssen.«
»Allerdings«, bestätigte sie. »So aber hatten wir den Schlamassel am Hals. ›Nie wieder Auschwitz‹, hat der Joschka immer gesagt. Wir mußten Milošević stoppen. Ich sage Ihnen, der war drauf und dran, einen Genozid zu begehen. Vor unseren Augen. An der Schwelle zum neuen Jahrtausend! Und das nach diesem fürchterlichen Jahrhundert, dessen Lektionen wir doch gelernt zu haben glaubten. Nein, wir mußten das tun; es gab überhaupt keine Alternative damals.«
»Sehen Sie mal«, warf der ehemalige Oberstleutnant ein, ein drahtiger Bartträger, wie ich sie bei der Panzertruppe öfter erlebt habe. »Ich lag mit meinen Leopard-Panzern damals bei Tetovo. Das halbe Bataillon hatten wir im Einsatz, um die Serben von den Mazedoniern fernzuhalten. Freischärler auf beiden Seiten. Die haben sich über unsere Köpfe hinweg mit Mörsern beschossen, und zwar ordentlich. Ich kann nur bestätigen, das war eine Situation damals, die hätte in Nullkommanichts zum Flächenbrand geführt. Es ging um alles oder nichts, und die Serben haben gesagt, jetzt machen wir ein für allemal Schluß und räumen hier auf, daß eine Ruhe ist mit dem ganzen Gesocks. So haben die gedacht, und die hätten hier überall ein Blutbad angerichtet, das können Sie mir glauben, wenn wir sie gelassen hätten.«
»Auschwitz