Schmäh. Edwin Baumgartner
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Zumindest ist er es in diesem Fall.
Aber ich will reinen Wein einschenken – soweit das beim Schmäh überhaupt möglich ist. In den verschiedenen Redewendungen besitzt das Wort Schmäh nämlich unterschiedliche Bedeutungen und Nuancen.
Schmäh für sich genommen, das wäre in etwa das Graf-Bobby-G’schichterl. Dessen Perfektionierung wäre, würde unsereiner nach der Aufklärung des Missverständnisses ein „Schmähohne?“ einstreuen, worauf der Erzähler fortsetzen würde mit „Schmähohne“. Doch in den Redewendungen kann Schmäh andere Bedeutungen annehmen: „A aufglegta Schmäh“ bedeutet etwa eine leicht durchschaubare Flunkerei oder Lüge, „wen mi’n Schmäh packn“ heißt, jemanden durch Charme für sich einzunehmen versuchen, und wenn man „mi’n Schmäh hausian geht“, dann tut man, was ich gerade gemacht habe: Man schmückt sich mit fremden Federn, denn ich habe die Definitionen aus Wolfgang Teuschls „Wiener Dialektlexikon“ genommen.
Gerade fällt mir etwas auf: Könnte Schmäh in allen Zusammensetzungen und Redewendungen möglicherweise eine Distanz zwischen der Wahrheit und der Realität des Schmähs bedeuten?
Neulich habe ich mich beim Schmähführen ertappt. Ich habe in meinem Stamm-Modehaus ein Sakko für mich gekauft, weil in mein noch gar nicht altes die Motten hineingekommen sind. Mistviecher! Die Verkäuferin, die mich seit gut fünf Jahren kennt, war ein bisserl erstaunt, dass ich schon wieder ein Sakko kaufe. Gesagt hat sie natürlich nichts, aber ihrem Blick habe ich es angesehen. Also sage ich: „Schauen Sie7, das Sakko, das ich letztes Mal bei Ihnen gekauft hab’ – das haben die Motten aufgefressen. Ich mach den Kleiderkasten auf und hab’ das Malheur gesehen. Was soll ich Ihnen sagen? – Eines von den Biestern ist da gesessen, hat noch auf einem Fetzerl von dem Sakko herumgekaut und mich frech angegrinst.“ Haben Sie je eine Motte grinsen gesehen oder auf einem Stückchen Stoff herumkauen? Das war natürlich der reine Schmäh. Wenn er rennen soll, der Schmäh, dann bedarf es des gegenseitigen Einverständnisses zwischen Schmähführer und Zuhörer. Das kommt stillschweigend zustande. Keiner sagt: „Jetzt tuan ma a wengal schmähführen.“ Man spürt: Jetzt ist der richtige Moment für einen Schmäh. Wie man den erwischt, den richtigen Moment? Was soll ich Ihnen sagen? – Den richtigen Moment zu sagen, „ich liebe dich“, kann man ja auch nur spüren und nicht planen.
Aber machen wir uns nichts vor: Außerhalb von Wien, bei den Fremden quasi, steht der Schmäh in schlechtem Ruf. Er gilt als Zeichen einer spezifisch wienerischen Form der Unehrlichkeit. Diesen üblen Leumund verdient der Schmäh nicht. Doch ein bisserl was könnt’ schon dran sein. Man braucht ja den Schmäh nicht gleich mit der faustdicken Lüge gleichzusetzen. Mit der Lüge ist immer etwas Bösartiges verbunden, zumindest ein Vorteil, den man für sich selbst herausholen will.
Der Schmäh hingegen: Sie erinnern sich an die Frau Barischitz mit der Geschichte vom eingefrorenen Feuer? – Wahr an ihr ist nur, dass die Frau Barischitz an einem Wintertag ein Feuer in ihrem Ofen gemacht hat, aber es war wohl dermaßen kalt, dass sie die Wohnung selbst damit nicht ausreichend aufwärmen konnte. Die Geschichte in der Schmäh-Variante nützt niemandem und schadet keinem. Sie bebildert die extreme Kälte. Zwischen der Wahrheit und dem Schmäh klafft aber ein Spalt.
Auch bei der Graf-Bobby-Geschichte ist diese, sagen wir: verschobene Wahrheit vorhanden. Natürlich, weil der Witz, der als Ausgangspunkt diente, eine absurde Situation darlegte. Aber in der Schmäh-Variante wird es nicht logischer: Wieviel Geld muss der Graf Bobby in einer einzigen Nacht im Badener Casino verspielt haben, wenn er danach sogar Dienstboten entlassen muss? Wieso entlässt er gerade die Köchin, wenn er weiß, dass er selbst gerade davon keine Ahnung hat? Wie hat der Graf Bobby die Unmengen an Semmeln nach Hause gebracht? Fragen über Fragen.
Natürlich braucht der Schmäh keine Logik, es bedarf keiner in sich stimmenden Geschichte. Aber diese fehlende innere Logik verursacht dann eben diese Trennung zwischen Schmäh und Wahrheit oder zwischen Schmäh und Wirklichkeit.
Und wenn der Schmäh ganz einfach eine ganz und gar wahre Geschichte ist, die der Erzähler nur durch seine Darstellung über Gebühr aufwertet? Auch das kann Schmäh bedeuten. Ich will es so versuchen: In diesem Fall macht der Erzähler aus einer Mücke einen Elefanten. Da aber Mücken keine Elefanten sind, diese Mücke aber für einen Elefanten ausgegeben wird, besteht in solch einer Maskierung die Abkehr von der Realität. Die US-amerikanische Dichterin Gertrude Stein hat zwar in Wahrheit geschrieben „Rose is a rose is a rose is a rose“, aber der Satz ist in sanfter Verballhornung längst auch in den deutschen Wortschatz eingegangen, wenn man sagen will: „Es ist, was es ist. Nicht mehr und nicht weniger.“ Demnach würde die Realität sagen: „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“, während der Schmäh spräche: „Eine Rose ist ein Rosenstrauß ist ein Feld voller Rosen – darf ich Ihnen, schönste Frau der Welt, wenigstens eine davon schenken?“
Der Schmäh wäre also eine Geschichte oder Ausdrucksweise mit – sagen wir: speziellem Verhältnis zur Wahrheit. Als ob man damit den Schmäh eingrenzen könnte! Vielleicht lässt er sich ja bei seinem Namen packen: Schauen wir uns also an, woher die Bezeichnung kommt.
Wie bitte? Das Kapitel ist lang geworden? Richtig. Und so lange Kapitel sind nichts für die Lektüre in der Straßenbahn oder im Kaffeehaus? Nochmals richtig. Ich selbst ziehe ja kürzere Kapitel vor. Was es mit dem Wort Schmäh auf sich hat, steht daher erst im nächsten.
Da fällt mir gerade noch etwas ein – wird nicht lang, ich versprech’s, aber ich muss Ihnen noch etwas über die Frau Barischitz erzählen. Sie, die meine erste Begegnung mit dem Schmäh bewirkte, ist auch die Ursache dafür, dass ich bis heute kein Huhn esse. Der Schmäh kann halt ab und zu nach hinten losgehen. Bis zu jenem Tag meiner ferne zurückliegenden Kindheit habe ich Huhn leidenschaftlich gerne gegessen. An diesem bestimmten Tag ist meine Großmutter mit mir auf den Markt gegangen, um bei Frau Barischitz ein Henderl zu kaufen. Das sollte es, gebraten, als Mittagsessen geben. Meine Großmutter hat wirklich fabelhaft gekocht. Aus purer Vorfreude auf die resche Haut ist mir das Wasser im Mund zusammengelaufen. Meine Großmutter verlangt das Henderl und fragt ganz automatisch: „Is s eh frisch?“ Nun hätte Frau Barischitz einfach antworten können: „Ja.“ Aber eine einfache Ja-Nein-Antwort widerspricht allem, was Schmäh ist. So antwortete Frau Barischitz sozusagen stilecht: „Eh. Heunt’ in da Fruah hot s no Keandln pickt.“ Aus war’s. Nie wieder Huhn. Es war mir egal, ob das Huhn wirklich noch am Morgen Körner aufgepickt hat oder gestern Abend seine Henkersmahlzeit zu sich genommen hatte. Ich war kein völlig naives Kind. Ich meine: Instinktiv war mir durchaus klar, dass Kühe und Schweine das Schnitzelfleisch nicht freiwillig zur Verfügung stellen, und dass Brathühner kein Gemüse aus dem Glashaus sind. Aber die Vorstellung, dieses Tier zu essen, dass sich vor ein paar Stunden noch ein Korn nach dem anderen schmecken ließ und dabei glücklich war: Es war für mich so absolut unerträglich, dass ich nie wieder Huhn gegessen habe. Nicht als Kind – und irgendwie sitzt mir dieser Schock von damals noch immer so sehr in den Knochen, dass ich auch heute kein Huhn esse.
Schmähohne.
INTERMEZZO: IM MODEGESCHÄFT GEGENÜBER
Im kleinen Modegeschäft auf der anderen Seite der Straße, später Nachmittag.
- Griaß Sie, Frau Schuller.
- Griaß Sie, Frau Sladek. San S wieda gsund?
- Danke der Nachfrage, s woa jo nua a Schnupfn.
- God sei Daunk. Kaun i