Chef, wir müssen reden. Der Traum vom Ausstieg auf Zeit. Alexander Reeh
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Sanders ist gerade 41 Jahre alt geworden, und was sie in den vergangenen zehn Jahren erlebt hat, ist Stoff für einen Film, den sie gedreht hat, »Über allen Horizonten«, und ein Buch, das sie veröffentlicht hat, »Einfach davongeflogen.«
Die zehn Jahre im Zeitraffer gehen so: Die junge TV-Journalistin Sanders leidet unter der Routine des Jobs und Alltags, steigt von jetzt auf gleich aus und flieht auf die winzige Karibikinsel Dominica, um zu sich selbst zu finden. Sie findet aber nicht nur sich selbst, sondern Glückes Geschick, auch einen alten Schweden, der die jemenitische Königsfamilie und afrikanische Prominenz als Privatpilot durch die Welt flog, irgendwann –gleichfalls auf Selbstsuche- in der Karibik landete, um dort auf die alten Tage seinen Traum zu verwirklichen: gemeinsam mit einem jungen Karibe-Indianer ein eigenes Flugzeug zu bauen und zu fliegen. Die Deutsche beschließt, über diesen interessanten Kauz einen Dokumentarfilm zu drehen – acht Jahre und viele Ups and Downs später wird der Film mit internationalen Preisen überschüttet. Und nun ist sie auf dem Weg nach Hollywood, wo Clint Eastwood und Kevin Costner an der Geschichte Interesse signalisiert haben.
In etwa so sähe vermutlich der Beitrag aus, wenn die Fernsehfrau Lara Sanders vor Jahren einen Film über den Menschen Lara Sanders hätte schneiden müssen. Eine Minute dreißig, Klappe – Ende. Denn das war mal ihr Leben vor dem großen Schnitt. Schnell, flüchtig, gehetzt, immer auf dem Sprung. Sie ist da Anfang 30, moderiert nach dem Studium der Kommunikations- und Betriebswirtschaften in Köln Radiomagazine für den WDR, dann auch fürs Fernsehen in München. Sie verdient gutes Geld, hat aber kaum Zeit, es auszugeben. Sie ist beliebt bei den Kollegen und Chefs. Sie hat einen kreativen, jungen Musiker zum Mann und liebevolle Eltern. Stöckelt durch die Bussi-Bussi-Gesellschaft Münchens - Ärzte, Rechtsanwälte, Promis und Semipromis-, »weil ich damals dachte, dass das dazugehört«. Lara ist ein bisschen wie Carrie aus »Sex and the City«. Sie sammelt Schuhe, ist picobello gekleidet und frisiert, mani- und pedikürt und hat außerdem ein gewisses Faible für jüngere Männer. Von außen betrachtet ist sie eine Karrierefrau – selbstbewusst, attraktiv, das flüstern ihr alle, die Freunde, der Mann, die Eltern, die Kollegen. Aber irgendwas an diesem Leben stimmt nicht, das ahnt sie, und das nagt an ihr.
Die Frau im Schneidersitz, zehn Jahre reifer nun, nennt diese Phase rückblickend »Hamsterrad« oder »goldener Käfig« oder »auf eingefahrenen Schienen fahren, nicht links, nicht rechts« oder »innere Versklavung« oder »Monotonie«. Sie hat erstaunlich viele Synonyme parat für ein Gefühl: unglücklich sein. Dahinter, das weiß sie heute, loderte Sehnsucht. Sie wollte Geschichten erzählen, wie früher mit acht oder neun, als sie den Eltern kleine Drehbücher und Hörspiele zu Weihnachten schenkte. Sie wollte kreativ sein und nicht nur funktionieren. Sie sagt: »Ich war wie ein rotes Licht, auf Sendung. An und aus. Auf Knopfdruck. Wie am Fließband. Und dann die Partys, die Einladungen, das Gequatsche. Alles so wichtig, und alles so hohl …«
Cut, Schnitt, Rückblende. November 1999, einer dieser Tage, Nieselregen aus grauen Wolken, Autos spritzen durch Straßenpfützen, Menschen unter Kapuzen. Sanders sitzt in der Straßenbahn auf dem Weg zur Arbeit, Bavaria-Studios München, und sie merkt, dass die Bahn in die falsche Richtung fährt, »immer der gleiche Weg«, Linie R wie Routine, »immer die gleiche Uhrzeit, immer die gleichen Konferenzen. Immer die gleichen Geschichten –wer macht heute die Story über die Frau mit dem künstlichen Ohr?« Das Grau kriecht in ihr hoch und führt zu einem, wie sie sagt, »spontanen und doch geplanten Kurzschluss«. Sanders kramt das Handy aus der Tasche, ruft im Studio an, verlangt den Chef – und kündigt. Sie versucht ihren Mann und die Eltern zu erreichen – spricht aber jeweils nur auf den Anrufbeantworter. Statt ins Büro zu fahren, nimmt sie die Bahn zum Flughafen. Steht im Wintermantel dort, mit Tasche und Notebook, äußerlich noch ganz Karrierefrau, und denkt: »Schau auf die Tafel, nimm den zehnten Flug, nicht den dritten, den erkennt man aus den Augenwinkeln, den zehnten, dann kannst du nicht schummeln. Egal wohin. Nur weg.« Sie hätte auch in Dresden oder Bukarest landen können. Aber der zehnte Flug geht nach Fort de France, Martinique in der Karibik, mit Option auf Weiterflug nach Dominica, »noch nie gehört«. Sie kauft ein Ticket, im Duty-free-Shop noch zwei Kleider, ein Paar Sommerschuhe, Sonnencreme und einen Reiseführer über die Insel. Dominica ist winzig und nicht zu verwechseln mit der Dominikanischen Republik. Kleine Antillen, knapp 80.000 Einwohner, auf einer Fläche so groß wie Hamburg. Drei Stunden später hebt die Maschine ab, ihr neues Leben beginnt, auf und davon. Einfach so.
Nach zickzackreichen Jahren hat Lara Sanders die Kurve gekriegt. Sie sitzt auf dem Sofa und erzählt von den Selbstzweifeln anfangs auf der Insel. »Bist du verrückt? Was hast du getan?« Von den Eltern, die nicht verstanden, vom zurückgelassenen Ehemann, der nicht verstand und sich schließlich trennte, von den Freunden, die nicht verstanden und sie – nicht ganz zu Unrecht- auf einem Egotrip wähnten. Vor allem aber davon, dass der Entschluss ein richtiger war. Denn sie lernt in der Ferne, wieder Geschichten zu sehen. Trifft nach nicht einmal einer Woche diesen Greis Daniel Rundstroem, damals 77 Jahre, der sie zunächst mit seiner klapprigen Ente fast über den Haufen fährt und ihr sodann von seinem Baby erzählt, einem Flugzeuggerippe in seiner Garage, das irgendwann fliegen soll. Dieser Mann wird ihre Geschichte, ihr Film. Ein alter Schwede, Pilot einst für Könige, der mit dem jungen Karibe-Indianer Rainstar an einer Van’s RV-8 schraubt. Der alte Mann, ein karibischer Daniel Düsentrieb, öffnet ihr die Augen, er ist ein Lebenskünstler, und beide eint der Wunsch, sich einen Lebenstraum zu erfüllen: Er will sein Flugzeug bauen, sie will einen Film drehen. Beide sind ausgestiegen, beide sind in der Karibik gestrandet, beide glauben beinahe trotzig an ihre Sache. Der Alte und die Junge kombinieren ihre Sehnsüchte. Tausende Kilometer von Deutschland entfernt, erfährt die überstürzte Flucht ihren Sinn. Lara Sanders streift ihr altes Leben ab.
Eigentlich heißt Lara auch gar nicht Lara, sondern Barbara. Aber sie legt den alten Vornamen ab, »ich habe ihn nie gemocht, bin doch keine Heilige«, und nennt sich fortan Lara nach der Lara aus Pasternaks »Doktor Schiwago«, »eine starke, mutige Frau«. Sie legt vieles ab auf der Insel – die Manierismen, das Manikürte, das Gelackte. Sanders ahnt nicht, dass sie dreieinhalb Jahre drehen und weitere zweieinhalb Jahre schneiden wird, ihre gesamten Ersparnisse dafür draufgehen werden, fast 200 000 Euro, für Ausrüstung, Kamerateam und Flüge, »ich habe heute noch Schulden«.
Sie pendelt fortan jahrelang zwischen Dominica und Deutschland, sucht Geldgeber, reist auf Messen und zu Filmfestspielen, lernt in Cannes einen jungen französischen Rechtsanwalt kennen und lieben, Ehemann zwei. Lara spricht bei ungezählten Sendern vor und hört immerzu: »Wen interessieren alte Männer in Flugzeugen?« Heute kann sie darüber lachen, über Pleiten, Pech und Pannen. Über Fast-Abstürze mit dem Helikopter beim Dreh, »das Benzin ging aus«. Über das Leben am Existenzminimum, »keine Bank gab mir Geld, meine Eltern glaubten damals nicht an mich, Freunde gingen auf Distanz«. Und doch: Sie denkt nicht ans Aufgeben, sie ist von der Geschichte, ihrer Geschichte überzeugt, »in die Freiheit fliehen, an Träumen tüfteln, bis sie fliegen!« Die Cessna hebt am Ende ab, der alte Schwede lebt heute erfüllt und glücklich in seiner alten Heimat. Wenn das kein Stoff ist, aus dem Geschichten sind.
Nach sieben Jahren organisiertem Chaos schlägt Arte zu. Der Film »Über allen Horizonten«, 87 Minuten lang, läuft im Fernsehen, bekommt tolle Kritiken. Tatsächlich, es ist ein schöner Film, famose Bilder, leise und zurücknehmend erzählt. Sender aus ganz Europa kaufen ihn, er wird international prämiert in den USA und Frankreich, und bei den Premieren weinen die Leute im Publikum schon mal. Die Botschaft lautet: Realisiere dich selbst, trau dich zu träumen. Das mögen die Leute. Ein Autohändler aus München sieht ihn, verkauft spontan sein Geschäft und eröffnet ein italienisches Restaurant, »das war immer mein Wunsch«, erzählt er ihr später.
Nieselregen über Schwabing, Sanders lebt wieder in München. Sie ist seit drei Jahren Mutter, inzwischen alleinerziehend, ihr zweiter Mann hoffte auf Ruhe und Routine, »Heim und Herd und Muttertier«. Aber das ist sie nicht. Lara Sanders moderiert zuweilen, sie hat einen internationalen Filmvertrieb gegründet, weitere Dokumentarfilme gedreht, das Buch geschrieben über ihr Abenteuer und sich ausgesöhnt mit den Eltern. Sie hetzt von Termin zu Termin, und gelegentlich