Chef, wir müssen reden. Der Traum vom Ausstieg auf Zeit. Alexander Reeh

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Chef, wir müssen reden. Der Traum vom Ausstieg auf Zeit - Alexander Reeh

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und mit gesundem Menschenverstand reist, kann man auch unterwegs viel lernen.

      Vor der vierten Phase, dem Wiedereinstieg, sei aber gewarnt: Die Eingliederung in ein gewöhnliches Leben ist oft gar nicht so einfach, wie man es sich am Anfang vorstellt. Die Welt, in die man zurückkommt, ist zwar noch die gleiche, aber man selbst hat sich verändert und hat neue, tiefsinnigere Werte im Leben gefunden. Um nur einige Beispiele unserer Veränderung zu benennen: aus Angst war Vorsicht und Respekt geworden; Hast, Hektik und Stress wurden ersetzt durch Gelassenheit; Vorurteile wandelten sich in Verständnis; sture Pläne wurden zu Optionen; Notwendigkeiten zu Prioritäten, die nicht alle erfüllt werden mussten; Phobien machten der Neugierde und Freude am Unbekannten Platz; Sorgen verwandelten sich in Ur- oder Grundvertrauen und Liebe.

      Zeit ist für viele Menschen eine luxuriöse Mangelware, insbesondere für solche, denen sonst nichts zu fehlen scheint, die ihre Lebensziele weitgehend erreicht haben und auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Ich denke daran, wie ich früher an Time-Management-Kursen für Unternehmer teilgenommen habe, um alles optimal organisieren zu können, alles pünktlich zu vollenden und ja nicht zu spät zu kommen! Ich lächele bei diesen Erinnerungen. Welchen Nutzen hatten diese Zeitoptimierungssysteme, wenn ich sie mit der »Island Time« vergleiche, die in der Karibik von jedem Einheimischen erfolgreich praktiziert wird? Für diese Menschen ist Erfolg nicht Produktivität, sondern Glück.

      Geld kann verdient, gespart, verteilt werden und auf der Bank wachsen, ohne zu altern. Mit dem kostbaren Gut Zeit verhält es sich anders. Im Gegensatz zu seinem monetären Gegenstück ist Zeit gerechterweise an alle Menschen der Welt gleich verteilt und zwar mit genau 24 Stunden pro Tag für jeden; praktisch wie ein Geschenk der Götter. Bis auf seinen ersten und seinen letzten Lebenstag erhält jeder Mensch täglich genau die gleiche Menge an Zeit; nicht mehr und nicht weniger. Es ist jedem selbst überlassen, diese 24 Stunden weise zu investieren, denn man bekommt sie nie mehr zurück. Man kann sie nicht auf ein Bankkonto einzahlen, um ein paar Reste für später aufzuheben. Es gibt keine Zinsen auf gesparte Zeit. Ähnlich kann man Zeit auch nicht auf Kredit erhalten. Zeit ist für uns nun plötzlich viel mehr wert als Geld, und wir überlegen daher genau, ob wir unsere Zeiteinheiten fürs Fernsehen ausgeben, lieber ins Bücherlesen investieren oder mit Freunden Spaß haben wollen. Zeit ist für uns zur wertvollsten Währung geworden.

      Seinen Traum zu leben ist die eine Sache, aber nach der Auszeit wieder in den gewohnten Alltag einzusteigen ist eine ganz andere Herausforderung. Wie soll man beispielsweise nach einem so großen Abenteuer und der weitgehenden Erfüllung langgehegter Ziele und Träume nun neue Ziele und Träume finden? Geht es einem nach einem so erfüllenden Jahr wie dem Olympiasieger, der in eine Depression versinkt nachdem er seine Medaille gewonnen hat, für die er sein ganzes Leben kämpfte? Ich habe von einigen Seglern gehört, dass es helfen würde, ein neues Projekt zu beginnen: ein Haus zu bauen, eine neue Arbeit annehmen oder gar das nächste Segelabenteuer zu planen. In jedem Fall sollte es gelingen, nicht für den Rest des Lebens das Bedauern zu spüren, zurückgekehrt zu sein. Vielmehr muss man weiter nach vorne blicken und Ziele und Perspektiven aufstellen.

      Wir waren aus unserm alten Leben aufgebrochen, um etwas Neues kennenzulernen. Ganz langsam veränderte fast alles, was wir früher für sehr wichtig gehalten hatten, seine Bedeutung. Indem wir uns ein Jahr Auszeit gegönnt haben, haben wir gelernt, uns zu öffnen und für neue Dinge bereit zu sein, und zwar für den Rest unseres Lebens. Wir verwarfen dabei nicht unser altes Leben. Im Gegenteil: Wir schätzten es umso mehr, denn es hatte uns ja zu unserem Segeljahr und unserer veränderten Sichtweise geführt. Unser altes Leben hatte uns Erfahrungen geschenkt, auf die wir unterwegs bauen konnten, denn es bestand aus wesentlich mehr als nur aus Gewohnheiten, die uns gefangen hielten. Unterschiedliche Perspektiven gehören zu verschiedenen Lebensabschnitten, und man unterliegt im Fluss des Lebens ständig kleinen Persönlichkeitsveränderungen. Diese ergeben persönliches Wachstum, und als Mensch wachsen zu dürfen, gehört zu den größten, spannendsten und bereicherndsten Erfahrungen im Leben. Gewohnte Wertvorstellungen, die ursprünglich hilfreich und dadurch bedeutungsvoll waren, können im Verlauf des Lebens an Bedeutung verlieren beziehungsweise sich sogar zu Blockaden entwickeln, die persönlichem Wohlbefinden eher im Wege stehen. Gleichzeitig entwickeln sich oft neue Überzeugungen, Werte und Grundhaltungen. Dieser Prozess stetiger Veränderung und Entwicklung, der normalerweise sehr langsam von statten geht, wird unglaublich deutlich und dynamisch während eines kurzen Segeljahres, in dem sich so viel und rasch entwickelt. Es mag fast erschreckend klingen, dass man sich so stark verändern kann, aber wir begrüßten unsere neue Weltanschauung, die unsere grundlegenden Bedürfnisse zutiefst befriedigt und unserer Persönlichkeit entspricht. Die innere Reise von partieller Fremdbestimmung und Selbstentfremdung hin zur Selbstverwirklichung haben wir erfahren dürfen.

      Nach der Rückkehr aus unserem Sabbatical wurde es sehr deutlich, dass nicht alle Menschen um uns herum ihr hochprivilegiertes Leben zu genießen schienen. Viele kamen uns doch recht unglücklich und unzufrieden vor und schienen in Zwänge eingeknotet. Sie »mussten« so viel und »nur noch schnell«, wie sie sagten. Wo blieb die Muße? Sich Zeit nehmen für eine Aufgabe? Sich Zeit schenken, sich über das Ergebnis freuen? So wie der Künstler, der sein Bild liebt und sich nur ungern und unter Schmerzen davon trennt, da er sich so innig damit beschäftigt hat, es mit Geduld, Einfühlungsvermögen, Hingabe und Liebe zu schaffen. Sind deshalb Künstler die glücklicheren Menschen?

      Viele Leute um uns herum hatten weder das Verständnis für noch das Bedürfnis nach Zeit und Muße. Es ging ihnen oft schlecht. Gleichzeitig empfanden sie sich aber alle als völlig normal und konnten vor lauter Streben nach scheinbar notwendiger Gewinnmaximierung, Effektivität und Produktivität die schleichende Entfremdung von sich selbst und ihren Bedürfnissen nicht erkennen. Es fehlte ihnen offensichtlich an gesunder, selbstkritischer Distanz zu sich selbst. Und immer diese Hetze! Wie soll man das auch aushalten, ohne langsam abzustumpfen und sich eine Hornhaut auf der Seele wachsen zu lassen?

      Das Leben ist schon sehr kurz – da muss man doch ganz langsam leben!

      Heute weiß ich, wie durchführbar eine ersehnte Auszeit doch oft sein kann. Man braucht nur eine Portion Mut und Hilfestellung von jenen, die es schon geschafft haben.

      Um andere zum Segelsetzen zu inspirieren, habe ich das Buch »Sabbatical auf See« geschrieben. Es beschreibt uns als eine ganz normale Familie, die vierzehn Monate lang ohne viel Dramatik die klassische Route über den Atlantik in die Karibik und zurück segelt. Es ist ja nichts weiter dabei, würde ich heute sagen, denn über tausend andere Boote tun es ja auch – und zwar jedes Jahr. Es ist die Geschichte eines genussvollen Familientörns nach Norwegen, Schottland, Irland, Portugal, Karibik und wieder zurück. Wir stellten uns mit unseren Kindern Jessica (11) und Jonathan (9) auf unserer 40-Fuß-Segelyacht der Herausforderung, unseren abgesicherten Alltag gegen eine neue Erfahrung einzutauschen. Für uns wurde es zum äußeren und inneren Wendepunkt – voller Spannung und völlig angstfrei.

      Und noch etwas ist interessant: Es braucht scheinbar nicht viel Überzeugungskraft, um es wirklich zu wagen. Manchmal ist es nur ein Gespräch oder ein Buch, das einem die letzten Zweifel wegwischt und plötzlich ist man über Nacht gereift: aus dem Träumen wird Planen.

      Trotzdem werde ich immer wieder von der Wucht überrascht, mit dem das Buch »Sabbatical auf See« zum Loslassen inspiriert. Nicht selten erhalte ich heute Danksagungen aus allen Ecken der Welt, dass sie es schlussendlich doch geschafft haben, einen Ausstieg auf Zeit zu wagen. Das freut mich sehr und gibt mir die Kraft weiterzuarbeiten, um anderen zum Sabbatical auf See zu verhelfen.

      Schon längst habe ich den Wiedereinstieg aufgegeben und stattdessen meine Passion zum Beruf gemacht: Ich arbeite heutzutage nur noch mit dem Ziel, Menschen zum Fahrtensegeln zu bringen und ein dafür geeignetes Schiff für die große Fahrt auszurüsten. Zwar habe ich meinen Ingenieursberuf an den Nagel gehängt, das technische Verständnis und die Pädagogik kommen mir aber trotzdem noch zugute. So bin ich zu einem Royal Yachting Association (RYA) Yachtmaster Ocean Instructor erkoren worden und habe eine Hallberg-Rassy 46 gekauft, die ich Regina Laska nenne.

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