Am Tag, als Walter Ulbricht starb. Jan Eik

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Am Tag, als Walter Ulbricht starb - Jan Eik страница 11

Am Tag, als Walter Ulbricht starb - Jan Eik

Скачать книгу

kam die befremdete Frage zurück.

      «Von Rainer. Ich habe ihn neulich in Schmöckwitz getroffen.»

      Ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit versuchte der Vater, den Dummen zu spielen. «Was für ein Rainer?»

      Das war selbst der Mutter zu viel. «Von Erkenbrechers?», fragte sie ungläubig. «Darf der denn so einfach nach Schmöckwitz?»

      «Du hast doch gehört: Unter eurem Honecker hat sich eine ganze Menge geändert.»

      Den Vater plagten sofort andere Sorgen. «Du hast ihm hoffentlich keine Adresse oder Telefonnummer gegeben!»

      Carola blieb ihm die Antwort schuldig. «Er hatte einen alten jüdischen Onkel aus Amerika dabei. Bist du mit dem eigentlich auch verwandt?»

      Der Genosse Weigang schluckte. «Für einen echten Kommunisten existieren keine Rassen-, sondern nur Klassenschranken!», erklärte er schließlich. Eine Antwort war das auch nicht.

      «Und ich dachte immer, das Judentum wäre eine Religion», entgegnete Carola.

       Juni 1972

      PAUL BARZOW musste dringend in die Kreishauptstadt. Zum Arzt, wie er behauptete, was dem 68-Jährigen jeder ohne weiteres glaubte. Er litt an fortgeschrittener Arthrose, rheumatischen Schüben, zu hohem Blutdruck, leichter Altersdiabetes, einer Fehlfunktion der Schilddrüse, einer harmlosen Form von Hautkrebs, Schlaflosigkeit und noch einem weiteren Dutzend von Beschwerden, um die er sich nicht kümmerte. Er fühlte sich eigentlich ganz gesund.

      Die Ausrede mit dem Arztbesuch hatte sich jedoch bis jetzt stets als erfolgreich erwiesen. Irgendeine Urlauberfamilie fand sich immer, die den umgänglichen alten Mann im Auto mit nach Bergen nahm, was ihm den beschwerlichen Weg mit dem Fahrrad zur Bushaltestelle und von dort mit dem häufig überfüllten Linienbus ersparte. Das Fahrgeld durfte er trotzdem abrechnen. So kam eins zum anderen, und sein Konto sah gar nicht mal schlecht aus – jedenfalls nicht so schlecht wie das Warenangebot im Landwarenhaus. Jetzt sollte es sogar ausländische Buntfernseher geben, aber natürlich nicht hier oben im hohen Norden. Mal sehen, was sich da machen ließ. Im Sommer kam er ja kaum zum Fernsehen, da saß er abends mit den Feriengästen vor dem Heim, das deren Betrieb ausgebaut hatte, und schwatzte ein bisschen. Zu trinken gab es reichlich, und verhungern ließen sie ihn auch nicht. Er war beinahe der einzige Einheimische weit und breit und gehörte quasi zur Folklore, wie mal einer festgestellt hatte.

      Paul Barzow kannte das Wort nicht. Er lebte bescheiden in seinem Häuschen hinter dem Deich, kaum hundert Schritte von dem noblen Ferienheim entfernt und nur dreihundert von dem kleinen Campingplatz, auf dem sich jeden Sommer die gleichen Eingeweihten einfanden, denen es auf dem kargen Inselchen gefiel. Onkel Paul gehörte dazu, als wären sie alle eine Familie. Nur im Herbst, wenn der Nordwest in Böen über die flache Landschaft fegte, und in den langen Wintermonaten bis März oder April wurde es ein bisschen einsam, da kamen einem der wärmende Grog und vielleicht so ein Buntfernseher gerade recht. Wichtig war nur, dass man damit den richtigen Kanal in Farbe sehen konnte. Mit dem richtigen meinte Paul natürlich den falschen, aber darüber sprach er mit niemandem, obwohl er sonst ganz gerne redete. Die Urlauber hörten ihm zu, wenn er von früher erzählte, vom schweren Leben der Fischer und von der Lastenseglerei, die sein Vater noch betrieben hatte. Damals hatte es noch keinen Rügendamm und kaum Straßen auf der ganzen Insel gegeben. Und viel weniger Feriengäste. Hierher, auf das abgelegene Eiland im Bodden, war überhaupt kein Fremder gekommen.

      Richtige Straßen gab es auf dem ersten Teil der Strecke noch immer nicht. Wozu auch? Für die paar Fahrzeuge genügten die längsverlegten Betonschwellen allemal, die sich rings um die Deiche zogen. Egal, ob man links- oder rechtsherum fuhr, man landete immer wieder in dem einzigen richtigen Dorf auf der Insel und musste über die einzige Brücke, um sie zu verlassen. Schon war man auf sagten die Rügener. Viele Heimurlauber gaben zu, den Namen vorher nie gehört zu haben.

      Paul kannte eine Menge Geschichten, und er erfuhr eine Menge. Manchmal waren die Urlauber hartnäckig und fragten ihn nach Dingen, über die er nicht gerne redete. Aber nach dem freigiebig ausgeschenkten sechsten oder achten Gläschen entschlüpfte ihm doch mal die eine oder andere Bemerkung über die eigene Vergangenheit, derer er sich insgeheim nicht einmal schämte. Gewisse Leute sahen das anders und hielten ihm den Dienst bei der Deutschen Kriegsmarine vor. Nachdem sie herausgefunden hatten, dass er zu den Freiwilligen für die Zwei-Mann-U-Boot-Waffe Seehund gehört hatte, war ihm nichts anderes übriggeblieben, als den schuldbewussten Sünder zu spielen und auf ihre Vorschläge einzugehen. Gedroht hatten sie ihm nicht. Dennoch verstand er, dass einer mit seiner Vergangenheit nur unter bestimmten Bedingungen im sogenannten erweiterten Grenzgebiet wohnen durfte. Vermutlich schätzten sie seinen Widerwillen richtig ein, in seinem Alter das ererbte Haus und die Insel zu verlassen, auf der er bis auf die Marinejahre sein ganzes Leben verbracht hatte. Vor zehn Jahren war seine Frau gestorben, und kurz vorher war deren einziger Sohn verschwunden, mit dem er sich ohnehin nicht verstanden hatte. Der hatte bei den Mollies gedient, der Grenzbrigade in Matrosenkluft, die zum Gespött echter Fahrensleute, wie Paul einer war, nie aufs Wasser kam. Wohin der Junge gegangen war, erfuhr Paul nicht. Es war von Fahnenflucht die Rede. Damals hatten sie ihn zum ersten Mal mit nach Bergen genommen und einen ganzen Tag lang verhört. Und von da an …

      Paul war es längst gelungen, sich einzureden, dass er das Richtige tat. Dass es seinem Vorteil diente, war sowieso klar. Hätte er sich sonst in Bergen in das erste Haus am Platz setzen können, um das teuerste Steak und den besten Kognak zu bestellen? Auch wenn der Laden überfüllt, die Bedienung unfreundlich, das Steak trocken und der Kognak nur Weinbrand aus Rumänien war – Paul genoss es. Und er brauchte nicht zu zahlen. Das besorgte ungefragt der zaundürre Mensch namens Rudi, zu dem er sich ebenfalls ungefragt an den abgelegenen Tisch gesetzt hatte.

      Rudi sah sauertöpfisch und ein bisschen magenleidend aus, gab sich jedoch alle Mühe, Paul freundlich zu begegnen.

      Sie aßen, Rudi nur Klopse mit Kartoffelbrei, tranken einen zweiten Kognak und sprachen leise miteinander. Das war nicht ganz leicht für Paul, denn sein Gehör ließ schon etwas nach. Nur bei dem Thema Buntfernseher hob er seine Stimme doch ein wenig.

      Rudi winkte beruhigend ab. «Ich kümmere mich», versprach er.

      Das genügte Paul. Auf Rudi war Verlass, das wusste er. Er schob seinem Gegenüber ein paar Notizen hin, mit ungelenker Hand auf liniertes Papier geschrieben, doch durchaus lesbar. «Nicht viel los mit den Neuen», sagte er. «Die meisten sind zu alt oder mit mehreren kleinen Kindern da. Nur ein junges Paar. Sie arbeitet in der Kaderabteilung, und er angelt den ganzen Tag.» Er kicherte.

      «Stellt sich ziemlich dämlich an dabei. Aber die Katze freut sich …»

      «Fahren sie mit dem Boot?»

      «I wo. Gestern sind sie mit dem Trabbi zur Fähre und rüber nach Wittow.»

      «Viel Gepäck?»

      «Hab sie leider nicht ankommen sehen. Glaube aber nicht.»

      Rudi sah ihn an. Er hatte diesen durchdringenden Blick, den Paul nicht mochte. «Glauben genügt nicht», flüsterte er beinahe. «Wir müssen wissen, verstehst du?»

      Paul nickte. «Habt ihr irgendwelche Anhaltspunkte?», fragte er und war sich im gleichen Augenblick bewusst, dass er auf diese Frage so wenig eine Antwort erhalten würde wie auf manche andere.

      Er hatte sich getäuscht.

      Rudi senkte den Kopf, als spräche er zur Tischplatte, und sagte gedämpft: «Der Feind verstärkt seine Wühltätigkeit.

Скачать книгу