Am Tag, als Walter Ulbricht starb. Jan Eik
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«Wer ist Carola?», fragte Dr. Lilienblum. «Ich kenne nur Rudolf Caracciola. Für mich der größte Rennfahrer aller Zeiten. Zuletzt habe ich ihn 1931 gesehen, als er den Großen Preis von Deutschland gewonnen hat.»
«Nicht Caracciola, sondern Carola», belehrte ihn Georgia Erkenbrecher.
«Ja, Carola Lamberti – eine vom Zirkus., fiel Zützer ein.
«Ein DEFA-Film von 1953, glaube ich. Mit Henny Porten in der Hauptrolle.»
Lilienblum guckte etwas irritiert. «Und was habt ihr mit dieser Carola Lamberti zu tun?»
«Nichts», erwiderte Rainer Erkenbrecher. «Außer, dass meine Cousine auch Carola heißt.»
Dr. Julius Lilienblum las, als sie auf der Fahrt nach Grünau waren, laut vor, was im Album des Cigaretten-Bilderdienstes Hamburg-Bahrenfeld über die Ruderwettbewerbe der Olympischen Spiele von 1936 geschrieben stand.
Er hatte die beiden Bände auf dem Trödelmarkt an der Straße des 17. Juni billig erstanden: « Rudern in Grünau. In den phantastischen Gemälden und Geschehen der Berliner olympischen Ereignisse war dem Rudersport ein besonderer Ehrenplatz beschieden. Die herrliche Fülle von Erfolgen des deutschen Sports hatte die Stimmung im Fortschreiten der Tage auf einen Höhepunkt getrieben, der unüberbietbar schien. Da entstand unter den Wolkenbrüchen des 14. August in Grünau ein Glanztag sportlicher Gipfelleistungen, der beispiellos in allem war und kaum in der Zukunft eine Wiederholung finden wird und kann. In 7 olympischen Wettkämpfen erstritten die deutschen Kämpfer 5 goldene, 1 silberne und 1 bronzene Medaille und stellten den deutschen Rudersport an die Spitze aller Nationen der Welt. Fast unfassbar war dieser überwältigende Erfolg, der in einzigartiger Weise die Krönung des 100-jährigen Bestehens des deutschen Rudersports bildete. In ihm kristallisierte sich Arbeit und Fleiß von Generationen. Der Fortschritt der Technik im Rudern und Bau der Boote. Der restlose Einsatz und unerschütterliche Kampfgeist der besten deutschen Jugend. Inmitten seines begeisterten Volkes ragte die Gestalt des Führers hervor, dessen starker Wille das deutsche Volk zu den größten Taten befähigt hatte und sicher gehörten die Stunden in Grünau zu den glücklichsten seines unvergleichlichen Lebens..
Hier brach Lilienblum ab, da ihn die Erinnerungen zu sehr aufwühlten.
«Schmeißen Sie den Scheiß ins nächstbeste Feuer!», rief Günther Zützer.
«Soll ich etwa das gleiche tun wie die?», fragte Lilienblum.
«Es ist ein Dokument deutscher Geschichte», gab Rainer Erkenbrecher zu bedenken, «und erklärt einiges.»
«Ja, das klammheimliche Deutschland, Deutschland über alles bei den nächsten Olympischen Spielen», sagte Zützer.
«Und die findet 1972 zum ersten Mal mit zwei deutschen Mannschaften statt», fügte Erkenbrecher hinzu.
«Das widerlegt deine These von der anhaltenden nationalen Hybris ein wenig.»
«Wehe uns Westdeutschen, wenn wir da weniger Medaillen gewinnen als die Ostdeutschen!», rief Zützer.
«Und was ist mit den Süd- und den Norddeutschen?», fragte Lilienblum.
«Für den West-Berliner sind alle Menschen aus der Bundesrepublik Westdeutsche, egal, ob sie aus Hamburg, Stuttgart oder München kommen», sagte Erkenbrecher.
«Das ist es, was Niklas Luhmann unter ‹Reduktion von Komplexität› versteht.»
Zützer, der auf der Rückbank saß, beugte sich vor zu Dr. Lilienblum. «Und Sie sagen nachher den ‹Organen› bitte nicht, dass Sie aus dem Osten kommen, wenn auch aus dem Osten der USA, sonst werden Sie für einen Republikflüchtling gehalten und sofort kassiert.»
Sie diskutierten dieses Thema noch, als sie den Checkpoint Charlie erreicht hatten, den Grenzübergang für Ausländer in der Friedrichstraße. Hier hatte Dr. Lilienblum als US-Bürger den Akt der Einreise in die DDR zu vollziehen, während Erkenbrecher und Zützer zum Moritzplatz fahren mussten, zum Übergang Heinrich-Heine-Straße.
«Wir sammeln dich dann auf der Ost-Berliner Seite wieder ein», sagte Erkenbrecher. «Aber das kann lange dauern.»
Vielleicht hätte es bis zum Abend gedauert, wenn ihm auf dem Weg zum Moritzplatz nicht noch eingefallen wäre, dass die Grenzer den Besitz der blauen Olympia-Alben vielleicht als Todsünde ansahen. Doch wohin damit?
Zützer wusste Rat. «Fahren wir schnell bei mir vorbei und lassen es in der Kneipe.»
So dauerte es fünf Minuten länger, bis sie sich am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße in die Schlange der wartenden PKWs einreihen konnten.
«Diese scheiß Kontrollen!», schimpfte Zützer. «Man sollte diese uniformierten Schweine alle auf den Mond schießen!»
«Jetzt halten wir mal alle den Mund und machen uns ganz klein», sagte Erkenbrecher, der am Steuer saß. Die DDR-Grenzer zu reizen galt unter West-Berlinern als eine Art Selbstmordversuch. Ihr «Bitte fahren Sie mal rechts ran!» ließ sie so zusammenzucken, als hieße das schon fünf Jahre Bautzen.
Zützer lehnte sich zurück. «Mir tun sie schon nichts.» Er war überzeugt davon, dass die DDR die alternative Szene in West-Berlin als sehr nützlich erachtete, schwächte sie doch die Kampfkraft der Frontstadt ganz erheblich.
Da West-Berlinern das Betreten des Ostsektors und der DDR über lange Jahre hinweg verwehrt gewesen war, hatten sich Erkenbrecher und Zützer Bundespässe besorgt. Das war nicht ganz legal und auch nicht im Sinne der Westalliierten, doch Ernest Erkenbrechers Ferienwohnung in Wunsiedel und seine guten Beziehungen zum dortigen Ortsbürgermeister hatten es möglich gemacht.
Ost-Berlin erschien ihnen ungemein exotisch, und sie wollten sich nicht damit begnügen, ab und an mit Passierscheinen eingelassen zu werden. Mal eben ganz spontan in Ost-Berlin ins Theater oder Kabarett zu gehen hatte hohen Erlebniswert. Andererseits wussten sie genau, dass sie ärger bekommen konnten, wenn die DDR-Seite ihnen nachwies, dass sie West-Berliner waren.
Brav reichten sie den Grenzern die erforderlichen Papiere aus dem Wagenfenster. Erst erfolgte die Passkontrolle zum Einstempeln der Einreise, dann die Gepäckkontrolle. Erkenbrecher hatte alles, was für seine Cousine bestimmt war, fein säuberlich in der Zollerklärung eingetragen, doch ihm war entgangen, dass hinten im Fond ein Roman lag, den seine Mutter gestern vergessen haben musste: die Deutschstunde von Siegfried Lenz.
Der Blick des Grenzers war sorgsam geschult, und so hatte er das Buch sofort entdeckt. Den Text aus dem Merkblatt für Bürger nichtsozialistischer Staaten konnte er auswendig hersagen. Danach war die Einfuhr von Literatur und sonstigen Druckerzeugnissen, deren Inhalt gegen die Erhaltung des Friedens gerichtet ist oder deren Einfuhr in anderer Weise den Interessen des sozialistischen Staates und seiner Bürger widerspricht, nicht erlaubt. Sein Zeigefinger fuhr sofort in Richtung des westlichen Druckerzeugnisses. «Was ist denn das da?»
«Ein Stück griechischer Schafskäse – riecht man das nicht?», wollte Zützer zur Antwort geben.
Erkenbrecher wollte sagen: «Ein Buch – haben Sie so etwas in der DDR noch nie gesehen?»
Doch zum Glück konnten sich beide noch beherrschen, und eilfertig sprang Erkenbrecher aus dem Wagen, um dem Mann den Lenz’schen Roman in die Hand zu drücken.
Der