Am Tag, als Walter Ulbricht starb. Jan Eik

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Am Tag, als Walter Ulbricht starb - Jan Eik

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antwortete Erkenbrecher.

      Nun konnte Zützer nicht mehr an sich halten und dozierte im Ton eines Nachrichtensprechers des DDRFernsehens: «Das ist der Roman eines fortschrittlichen westdeutschen Schriftstellers, es geht um die Verfolgung von Antifaschisten im Nationalsozialismus.»

      Daraufhin verschwand der uniformierte Milchbart in einer Kontrollbaracke.

      Erkenbrecher und Zützer hatten eine gefühlte Ewigkeit zu warten.

      Nach einer Viertelstunde kam der Grenzwächter zurück mit der Information, dass er ihnen den Roman unter Vorbehalt mitgeben würde.

      «Was heißt unter Vorbehalt?», fragte Erkenbrecher.

      «Muss ich das Buch bei der Ausreise wieder mit ausführen?»

      «Ja, und bei einer erneuten Einreise in die DDR lassen Sie es zu Hause.»

      Endlich durften sie in den Ostteil der Stadt. Langsam rollten sie in Richtung Jannowitzbrücke. Sofort roch es ganz anders. Nach Hausbrand und nach den Auspuffgasen der Trabbis, nach Desinfektionsmittel und nach Plaste und Elaste aus Zschopau. Auch waren die Leute anders gekleidet, biederer und mit Jacken, Hosen und Blusen in merkwürdigen Pastelltönen.

      Durch menschenleere Straßen, in denen es noch so aussah wie kurz nach 1945, kurvten sie zurück zur Friedrichstraße, konnten aber Dr. Lilienblum nicht finden.

      «Haben sie ihn etwa für einen CIA-Agenten gehalten und hoppgenommen?», überlegte Erkenbrecher.

      «Oder noch viel schlimmer: für einen Israeli und Mossad-Mann», fügte Zützer hinzu.

      Doch sie fanden den Arzt schließlich auf Höhe Bahnhof Thälmannplatz gelaufen, um sich den Marmor anzusehen, von dem es hieß, er stamme aus der Reichskanzlei.

      «Quatsch!», sagte Zützer. «Der kommt bestimmt ganz frisch aus’m Berg irgendwo in Thüringen.»

      Sie wollten so schnell wie möglich die Radiale Ostbahnhof, Stralauer Allee, Köpenicker Landstraße, Adlergestell entlang – es war eine endlose Fahrerei. Zwar ging es hier betulicher zu als auf westlichen Straßen, aber die blauen Wölkchen, die aus den Auspuffrohren der Lastwagen und der Trabbis kamen, machten jeden Kilometer zur Qual. Außerdem hatte Erkenbrecher Angst, irgendeinen Fehler zu begehen und womöglich noch in eine Straßenbahn zu krachen. Die gab es in West-Berlin schon lange nicht mehr, und man hatte den Umgang mit den gelben Monstern völlig verlernt. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählten sie sich gegenseitig Ostwitze.

      Erkenbrecher begann: «Ein Ehemann erwischt seine Frau mit einem anderen im Bett. Entsetzt ruft er: ‹Ihr Idioten! Im Konsum gibt’s Apfelsinen.›»

      «Willy Stoph begrüßt auf dem Ost-Berliner Flughafen Schönefeld die erfolgreiche DDR-Olympiamannschaft. Er beginnt mit gehobener Stimme vom Protokoll abzulesen: ‹ O! O! O! O! O!. Der hinter ihm stehende Stasi-Offizier flüstert ihm aufgeregt ins Ohr: ‹Genosse Stoph, die Rede beginnt weiter unten! Was Sie gerade vorgelesen haben, waren die fünf olympischen Ringe.›»

      «Steht ein Volkspolizist auf dem Alexanderplatz und onaniert. Kommt ein Vorgesetzter und fragt ihn, was das denn solle. – ‹Na, du hast doch gesagt: Sperr ma ab.›»

      Sie nahmen Kurs auf Grünau und standen gegen fünfzehn Uhr auf Höhe des Sportdenkmals am Ufer der Dahme beziehungsweise des Langen Sees.

      «Meine Müggelberge!», rief Lilienblum. «Ein Mittelgebirge en miniature, wie Fontane mal gesagt hat.» Er stutzte. «Nur der Turm sah früher anders aus …»

      Zützer lachte. «Ein seltener Fall von Turmmutation: Von der chinesischen Pagode zum Betonklotz.»

      Erkenbrecher konnte sich daran erinnern, dass der alte hölzerne Turm irgendwann abgebrannt und von den Ost-Berlinern nach langem Hin und Her durch einen neuen ersetzt worden war.

      Vom Schmetterlingshorst her kam ihnen eine ganze Armada von Paddlern entgegen, angefeuert vom Übungsleiter eines volkseigenen Sportvereins, der in einem Motorboot nebenherfuhr und ihnen mit einem Megaphon zurief, was sie besser machen sollten.

      Zützer grinste. «Die trainieren alle für ihre Flucht über die Ostsee.»

      «Über so was spottet man nicht», sagte Erkenbrecher.

      Dr. Lilienblum wandte sich nun dem Sportdenkmal zu. «Das besteht aus den Natursteinen, die mehr als dreihundert Vereine damals in ihren Heimatorten gesammelt und mit ihren Vereinsnamen versehen haben. WILHELM DEM GROSSEN – DER DEUTSCHE SPORT hat mal draufgestanden. Jetzt sieht es aber mehr nach Ruine aus …»

      «Ja, und die DDR will es abreißen lassen», fügte Erkenbrecher hinzu. «Weil es an die deutsche Einheit erinnert und weil zu viele Städte aus den verlorenen Ostgebieten vertreten sind.» Er sah auf seine Uhr. «Kommt, wir müssen nach Schmöckwitz, Carola wartet auf uns.»

      «Alles dreht sich um Carola», sagte Zützer. «Hab ich noch nie gesehen, die Dame, bin aber schon mächtig gespannt auf sie. Wäre sie was für mich?»

      «Nein», erwiderte Erkenbrecher. «Erstens ist sie in festen Händen und zweitens linientreue Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik.»

       Juni 1972

      EIGENTLICH STIMMTE bei dem, was Erkenbrecher über Carola gesagt hatte, nur das Erste, und auch das nur aus Hartmut Battins Sicht. Mit einer wirklich Linientreuen hätte er niemals etwas angefangen. Nicht mal aus Spaß. Mit Carola aber meinte er es bei allem Spaß, den sie miteinander hatten, durchaus ernst, und es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte das auch so gesehen.

      «Das siehst du falsch!», war überhaupt so ein blöder Satz, der einem oft genug an den Kopf geschmettert wurde, wenn man eine andere Meinung hatte als die offizielle, und die hatte Hartmut Battin meistens. «Bis du etwa nicht für den Frieden?», klang dagegen schon halb satirisch, hatte aber häufig auch diesen drohenden Unterton, den Hartmut hasste. Schon in der Schule hatten sie ihn ausreichend mit solchen hohlen Sprüchen belöffelt. Jedenfalls einige von den Paukern, und natürlich immer die miesesten. Ein richtig intelligenter Hundertfünfzigprozentiger war ihm selten begegnet. In der Schule nicht, und im Beruf schon gar nicht. Er arbeitete bei der Post.

      «Die Reichsbahn und die Post, die saufen, wo’s nischt kost!» Das war der erste Spruch, den er von den alten Kollegen gelernt hatte, die schon unter Adolf die Strippen gezogen hatten, über und unter der Erde, und Kupfer und Kabel waren schon damals knapp gewesen. «Der Ain hat den Kabel erschlagen», wie polnische Kollegen es ausdrückten.

      Hartmut arbeitete beim Fernmeldeamt. «Aber zu melden ham wa nüscht!», war der nächste Spruch. In der Rangfolge der Bedeutsamkeit kam die Post ganz hinten und dann noch um zwei Ecken. Selbst der Minister war nur in der CDU, ein abgehalfterter Drogist, den sie Seifen-Schulze nannten. Hartmut hatte ihn einmal reden hören und wusste seitdem, dass es auch zweihundertfünfzigprozentige Unintelligenzler gab, die nicht mal in der SED waren.

      Mit seinen Kollegen verstand sich Hartmut Battin glänzend. Nur die machten die Arbeit im Amt überhaupt erträglich, und eine Kollegin ganz besonders. Sie hieß Carola Weigang und war sieben Jahre jünger als er. Nicht dass er besonders auf ganz Junge abgefahren wäre – nein, sie war mit ihren 24 Jahren eine Frau, die wusste, was sie wollte, und damit wohl genau die Richtige für ihn. Obwohl sie neben all ihren – nicht allein körperlichen – Vorzügen

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