Am Tag, als Walter Ulbricht starb. Jan Eik
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Am Tag, als Walter Ulbricht starb - Jan Eik страница 9
Von Carolas Westbesuchern ahnten der Chef, vor allem aber ihre Eltern nichts; in deren Kaderakten kam der West-Berliner Familienzweig schon lange nicht mehr vor. Bis zu jenem unguten Augustsonntag 1961 war den Alten zwischen Arbeit, Parteilehrjahr, Versammlungen und Agitationseinsätzen glatt entgangen, dass die dreizehnjährige Tochter inzwischen dank Cousin Rainer die verbotene Stadthälfte samt allen Kinos und Kaufhäusern am Kudamm kannte und möglicherweise auch deshalb nicht mehr die rechte Freude am täglichen Training empfand.
Carola hatte ihren auch nach dem Mauerbau andauernden Kontakt zu den Erkenbrechers vorsichtshalber nicht angegeben. Rainer ließ sich selten genug im Osten sehen und ödete sie dann auch noch mit Fragen zu marxistischer Fachliteratur an, die sie ihm jedoch willig besorgte. Der Gegenwert an Mitbringseln entschädigte sie allemal für das blöde Gefühl, in einer Buchhandlung so etwas zu kaufen oder zu bestellen. Was sie gerne gelesen hätte, gab’s da sowieso nicht. Rainer hatte mal versucht, ihr einen Simmel mitzubringen. Den hatten sie ihm an der Grenze abgenommen.
«Wie gut kennst du deinen Cousin eigentlich?», erkundigte sich Hartmut. Irgendwie kamen sie nicht weg von diesen Besuchern. Dabei war Hartmut das Gefühl nicht losgeworden, von denen wie ein freilaufendes Zootier betrachtet zu werden.
Carola zuckte mit den nackten Schultern. «Als Teenager habe ich ein bisschen für ihn geschwärmt. Das war eine ganz andere Welt da drüben, und er kannte sich dort bestens aus.»
«War er damals auch schon einen Kopf kleiner als du?»
Carola feixte: «Ist er nicht niedlich?» Sie wusste, wie sie Hartmut ärgern konnte.
Aber der stieg nicht darauf ein. «Kann er das Maul halten?», wollte er wissen.
«Was willst du ihm denn für ein Geheimnis anvertrauen?»
Hartmut schnaufte ärgerlich und knetete dabei abwesend ihre linke Brust.
Sie schob seine Hand weg. «Du möchtest, dass er dir Platten besorgt, stimmt’s?»
Hartmut widersprach ihr: «Quatsch!»
Dabei wusste sie genau, wie scharf er auf Dixieland-Platten war, von denen manche klangen wie auf dem Trichtergrammophon abgespielt. Er geriet förmlich in Verzückung, wenn er das Gequäke hörte. Die Band, zu der er gehörte, klang etwas besser. Er spielte Bass, ein Instrument von beträchtlicher Größe, das gewöhnlich Carolas Korridor verbarrikadierte, weil die Proben und viele Auftritte sowieso in Berlin stattfanden. Es sah ein bisschen merkwürdig aus, wenn der großgewachsene Kerl mit flatternder Mähne und dem Riesending auf dem Buckel auf seinem Habicht fuhr. Nicht weniger merkwürdig, als wenn sie hinter ihm auf dem Moped klemmte. Rainer hatte angeboten, ihnen billig einen VW-Käfer zu besorgen. Leider war die private Einfuhr von Fahrzeugen verboten.
«Er könnte mal ’n Weg für mich erledigen», sagte Hartmut vage.
Sie wurde hellhörig. «Was hast du denn im Westen für Wege zu erledigen?»
Er zögerte lange. «Es ist wegen der Kühns … aus Miersdorf», sagte er schließlich. «Die kennst du doch auch.»
Carola erinnerte sich an das sympathische Ehepaar.
«Die immer mit dem Faltboot rumgurken? Die haben wir mindestens zwei, drei Wochenenden nicht gesehen.»
«Eben. Sie wollten sich gleich melden … wenn sie drüben gut angekommen sind.»
Unwillkürlich setzte sich Carola auf. «Die sind rüber?», fragte sie verblüfft. «Davon hast du mir überhaupt nichts erzählt!»
Hartmut küsste sanft ihre vorwitzige Brustwarze.
«Über so was spricht man ja auch nicht.»
«Was soll das heißen? Hast du kein Vertrauen zu mir?»
Er versuchte, sie zu beruhigen. «Zu dir allemal. Aber ein unbedachtes Wort …»
Sie entzog sich ihm und sagte empört: «Du hältst mich also für ein Quatschmaul!»
«Natürlich nicht! Aber warum sollte ich dich mit so etwas belasten?»
«Weil ich die Leute vielleicht gut leiden kann. Obwohl die mit ihrem Igelit-Boot immer so ein Höllentempo vorlegen.»
«Sie haben hart trainiert. Ist kein Spaß, über die Ostsee zu paddeln.»
Carola war geschockt. «Über die Ostsee? Bist du sicher? Man kann doch auch in Berlin über irgendeinen See oder Kanal paddeln.»
«Kann man nicht!» Hartmut wusste es genau. «Das habe ich mit Günther und Annegret oft genug durchgekaut. Der einzige Weg führt über die Ostsee.»
«Du wusstest es also die ganze Zeit?»
Er nickte. «Wenn es nötig ist, kann ich eben auch den Mund halten.»
Carola sah ihn aufmerksam an. «Hast du selber mal daran gedacht?», fragte sie verhalten.
«Über die Ostsee?»
«Ich meine … überhaupt …»
Er erwiderte ihren wachsamen Blick. «Im September 1961 war ich schon fast drüben. Aber …» Er schwieg. Er hatte nie erwähnt, dass es da ein Mädchen gegeben hatte, das mitwollte, und dann doch nicht, weil sie angeblich schwanger war, und zwar von ihm. Und am Ende war sie ein halbes Jahr später im Kofferraum einer Diplomatenlimousine getürmt, und er war noch immer hier. «Hat eben nicht geklappt. Dann haben sie mich zur Fahne geholt, und da ist mir endgültig die Lust auf solche Abenteuer vergangen. Die schießen an der Grenze nicht mit Platzpatronen!»
Sie drängte ihren warmen Körper an ihn. «Das weiß doch jeder. Aber manchmal denkt man trotzdem dran, stimmt’s?»
Sie ahnte nicht, wie oft er daran dachte. Und welche Rolle sie dabei spielte. Ohne dich wäre ich längst weg, hätte er sagen müssen. 1968, kurz vor dem bösen Ende in Prag, war er gerade so weit gewesen, sich samt seiner auf Mikrofilm kopierten Zeugnisse und Unterlagen über die Tschechoslowakei abzusetzen. Und ausgerechnet da hatte es zwischen ihm und der umschwärmten Chefsekretärin Carola gefunkt. Bei einem Geplänkel über Carolas Berufsbezeichnung.
«Sie sind doch seine unentbehrliche Sekretärin», hatte er ihr geschmeichelt. «Ohne Sie ist der Boss doch hilflos.»
«Ich bin die Hauptsachbearbeiterin.» So hieß sie nur, damit sie ein bisschen besser bezahlt werden konnte.
«Aha. Und wer ist für die Nebensachen zuständig?» So hatte es angefangen. Und jetzt lag er hier neben seiner Eroberung, auf die er immer noch stolz war, und sie fragte ihn, ob er rüber wollte. «Im Traum bin ich manchmal plötzlich drüben», sagte er.
«Komisch. Ist mir auch schon passiert.» Das hatte er nicht erwartet.
Der nächste Morgen begann mit einem Beinahe-Unfall in der Prenzlauer Allee, als Hartmut den schlingernden Habicht auf dem glitschigen Pflaster nur knapp zum Stehen brachte. Carola fuhr lieber mit der Bahn, besonders an so einem verregneten Tag, doch dafür war es zu spät gewesen. Sie hatten wenig geschlafen in dieser Nacht, und das trübe Wetter animierte nicht zum Aufstehen.
Im Büro fühlte sie sich unwohl in ihrer feuchten Kleidung.