Luthers Kreuzfahrt. Felix Leibrock
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Doch es gab auch lichte Momente in seiner Jugendzeit. Mit zwölf Jahren hatte er Geld angespart und kaufte sich eine gebrauchte Gitarre. Lange hatte er davon geträumt. Sogar sein Vater steuerte fünf Mark für ein Lehrbuch zum Selbstunterricht bei; denn für den Unterricht in der städtischen Musikschule reichte sein Geld nicht. Stundenlang saß er in seinem Zimmer oder am Schmelz-Weiher und übte Griffe. Manchmal gab ihm sein Musiklehrer am Gymnasium, Herr Leyser, ein paar Tipps. Er begeisterte sich für Jimi Hendrix an der Gitarre und die Liedtexte von Jim Morrison. Beide genial als Musiker, aber jung gestorben. Morbide Anwandlungen. Träume von Jamsessions mit Gleichgesinnten. Der Reiz der Drogen. Erstmals taten sich ihm Auswege aus seinem tief empfundenen Verlorensein in dieser Welt auf. Seine erstaunlichen Fortschritte brachten ihm auch kleinere Auftritte bei Schulfesten. Gelegentliche Versuche, eine eigene Band zu gründen, scheiterten an fehlender Disziplin der Mitspieler, die oft die Proben schwänzten. Live fast, love hard, die young, das war die Lebensmaxime nicht nur von Hendrix und Morrison. Auch er nahm sich mehr und mehr vor, schnell und intensiv zu leben, aus der Isolation auszubrechen, heftig zu lieben und jung zu sterben. Ohne genau zu wissen, wie ihm geschah, hatte er eines Tages seinen ersten Samenerguss. Verwundert sah er auf die milchige Flüssigkeit und fragte sich, wie er wohl diesen Teil des Dreiklangs erfüllen sollte: Love hard, heftig lieben. Noch nie hatte sich ein Mädchen für ihn, den Außenseiter, das Spottobjekt der Schule interessiert. Mit seinem kastenförmigen Kopf und den damals stark abstehenden Ohren, mit seinen vielen Pickeln auf der blassen Gesichtshaut war er alles andere als ein Schönling. Auch sein Interesse am anderen Geschlecht war noch nicht erwacht. Im Gegenteil. Bei einer Klassenfahrt nach Mannheim mit einer Übernachtung in der Jugendherberge kam es im Schlafsaal eines Nachts zu einer homoerotischen Orgie. In der Dunkelheit gab einer aus der Klasse das Kommando vor. Alle zogen sich aus und langten sich in wildem Durcheinander an ihre schon bald erigierten Glieder. Auch er war Teil dieses juvenilen Erlebnisses, weil ihn niemand erkannt hatte und der Kick des Abenteuers die Lust am Demütigen seiner Person überwog. Die Mitschüler hatten schlicht und einfach vergessen, dass auch er an der Orgie teilnahm. Für ihn ein positives Erlebnis, auch wenn am nächsten Tag alle betreten beim Frühstück saßen und sich ihrer Ausgelassenheit schämten. Die Wochen darauf waren die Zeit der Paarbildung. Die Penisorgie verletzte die Mannesidentität. Mädchen erobern, das war der Weg, das Selbstbild zu korrigieren, vor sich selbst und den anderen. Die Jungen seiner Klasse eilten nach Schulschluss zum nahe gelegenen Mädchengymnasium. Schon bald gingen sie mit einer Auserwählten Händchen haltend zur Eisdiele oder in das Eye, den Jugendclub, in den nur reinkam, wer gute Beziehungen zum Türsteher hatte. Didi gehörte nicht dazu. Wütend drosch er zu Hause die Akkorde in die Gitarre. Auch er sehnte sich jetzt plötzlich nach einer Freundin, die er von ganzem Herzen liebte und die ihm diese Liebe erwiderte. Doch die Beutezüge ans Mädchengymnasium liefen ohne ihn ab.
Wie ein Wunder erschien es ihm, als sie plötzlich in seinem Leben auftauchte: Ulrike Braunholz. Nie zuvor hatte er sie gesehen. Den Namen las er auf ihrer Schultasche, als sie vor ihm in den Bus stieg. Er empfand sie überirdisch schön. Einmal erhaschte er an der Bushaltestelle einen Blick in ihre dunkelbraunen Augen. Für ihn war es der Blick in die Tiefe seines Lebens. In ihr, Ulrike, lagen alle Antworten auf seine existenziellen Fragen verborgen. Sie, nur sie war die Frau, mit der zusammen ein Weiterleben einen Sinn hatte. So dachte der Fünfzehnjährige. Wie aber sollte er, der, von einer langweiligen Cousine bei Familienfeiern abgesehen, noch nie mit einem Mädchen gesprochen hatte, wie sollte er sie kennenlernen? Er hatte keine Ahnung, wie man anmacht, anbaggert, aufreißt. Begriffe, die er von Klassenkameraden aufgeschnappt hatte. Ulrike ansprechen, allein der Gedanke bereitete ihm Schweißausbrüche. Aber sie war sein einziger Ausweg. Für sie war er in die Welt gekommen. Und sie, hoffentlich, hoffentlich, für ihn. Sie kennenlernen. Nichts essen konnte er in dieser Zeit, an Schlaf war nicht zu denken. Er war krank, herzkrank, ulrikekrank. Dann war sie da. Die Idee, wie sie anzusprechen war.
IV
Urlaub, Zeit zum Ausschlafen. Nicht so auf der NOFRETETE. Vor Sonnenaufgang, exakt um 5.15 Uhr, joggte auf Deck 15, dem Sonnendeck, die sehnige, drahtige, stirnbandgezierte Gazelle Gesine Harms aus Harrislee an der dänischen Grenze, das blonde Haar zu einem Hochzopf zusammengeflochten, die Ohren iPod-bestöpselt, ihre Runden um den Schornstein. Das war nur das Vorspiel zur einstündigen Übungseinheit an den Foltergeräten des Fitness-Centers. Auf diese Art bereitete sie vielen, in die Restaurants zum Frühstück strömenden Gästen am Rand der Adipositas ein schlechtes Gewissen. Nicht ohne Absicht. Die erwünschte Wirkung war aber fragwürdig, hörte sie doch einen schmerbäuchigen Herrn mit tiefsitzender Cordhose Worte wie „Fitness-Terroristin“ und „Schau dir das Wäschegestell an“ zu seiner ebenfalls kugelrunden Gattin nicht gerade leise sprechen. Gesine Harms belegte Kurse in Tae Bo, Ballooning Ball, Power Dumbell, Step, Yoga und Pilates, um dann zur Mitternachtsstunde am Indoor-Cycling auf dem Sonnendeck teilzunehmen. Am Abend zuvor, beim Auslaufen aus Palma de Mallorca, hatte sie sich beim Buffet auf den Caesar Salad, die gebratene Ananas mit Kokossorbet und die glasierten Perlzwiebeln gestürzt. Dabei fragte sie den philippinischen Buffethelfer, dem ein Schild den in diesem Zusammenhang irritierenden Namen „Bonsai“ zuwies: „Ist die Geflügelbrust auf dem Caesar auch schön mager?“ „Ja, Mam“, kam es zurück. Gesine Harms war nicht überzeugt, er habe sie verstanden. Bonsai hatte offenbar die Anweisung, die Fragen der Gäste stets zuvorkommend, mit einem Lächeln und zustimmend zu beantworten. Sein freundlicher Blick verleitete die Fastdänin, die etwas Sinnenverachtendes verströmte, zu einem Augenaufschlag und einem Deut mit dem rechten Zeigefinger auf ihr eigenes karges Dekolleté, das sich in einer lila Strickweste verlor. Gerade wollte sie zu formulieren beginnen, wie man es Fremdsprachigen gegenüber gelegentlich tut: „Ich“ (Zeigefinger), „ich“ (noch mal Zeigefinger) „nix fett essen ...“, da sah er auf ihren Oberkörper und sagte mit breitem Lächeln: „Ah, verstehe, ja, Hühnerbrust, mager, Mam“. Kurz überlegte sie, ob sie da was falsch verstanden hatte. Dann war ihr klar, dass die Äußerung des Kochs mit ihrer Handbewegung zusammenhing. „Unerhört“, sagte sie vor sich hin, „Was dieser Bonsai sich wohl untersteht!“ Kurz überlegte sie, sich beim Front Office Manager zu beschweren, unterließ es aber angesichts der kompromittierenden Beweisführung, die anzutreten ihr nicht erspart bliebe. Dafür bekommt der kein Trinkgeld, nicht einen müden Cent, schwor sie sich.
Während sie ihre Runden drehte, hatte sich an exponierter Stelle auf Deck 13, dort, wo sich auf anderen Kreuzern Liebende das Weiterschlagen des Herzens Hüfte an Hüfte und unter elegischen Klängen zusichern, eine Armada von Photographen aufgebaut. Mit ihren Stativen und überdimensionierten Objektiven erweckten sie den Anschein, neue Galaxien, das Heranrücken der mittelalterlichen Türkenflotte oder zumindest den Start der Air Force 1 auf der anderen Seite des Erdballs einzufangen. In Wirklichkeit ging es ihnen, mit dem Sinn für außergewöhnliche, einmalige, noch nie dagewesene Naturereignisse, um den Aufgang der Sonne, den sie in Myriaden von Fotos festhielten. Bedauernswert die Verwandten und Bekannten, die, an verregneten Abenden in muffigen Wohnstuben in Hoyerswerda oder Hanau mittels dieser Aufnahmen das millimeterweise Aufsteigen eines roten Punktes am Horizont nachzuvollziehen gezwungen waren, begleitet von einem emphatischen „Da, da, da ist sie, seht ihr sie, da, da, die Sonne, da, seht ihr sie …“ des Photographen.
An einer abgelegenen Stelle des Decks stand Wolle Luther. In der rechten Hand hielt er eine Plastiktüte von Aldi. Seine Blicke schweiften über das Deck. Niemand durfte ihn bei der Aktion beobachten. Umständlich kramte er ein schwarzes Kleidungsstück hervor. Sein Lutherrock war es, den ihm ein Kirchenvertreter während der Zeit geschenkt hatte, als er glaubte, Martin Luther höchstselbst zu sein. Nein, das war er nicht. Aber er fühlte sich als Luthers Anwalt. Dem Reformator sollte Gerechtigkeit widerfahren.