Wer mutig ist, der kennt die Angst. Johannes Czwalina
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Schau hin
Dann siehst du
Wie dich der andere frech angrinst
Dich auslacht
Und es genießt
Dass du seine Fratze nicht erträgst.25
Gelebter Mut und Zivilcourage sind die Fähigkeiten, authentisch zu bleiben auch unter Druck.
In der Begegnung mit Führungskräften bedauern viele rückblickend am Ende ihrer Karriere, nicht mutiger zu ihrer Meinung gestanden und nicht mehr von ihrer Authentizität verteidigt zu haben. Viele sprechen von Flexibilität und denken über ihre eigene Machtentfaltung nach und rechtfertigen damit nur ihre Lebenseinstellung von Feigheit, Charakterlosigkeit und Opportunismus. Prof. Eberhard Richter sagt, Flexibilität heißt im ursprünglichen Sinne, sich beugen, sich krümmen!26
Wie sind wir uns selbst fremd geworden? Wie oft haben wir uns dem Mechanismus der Arbeitswelt angepasst, wo wir für unsere Erfolge und unser Haben respektiert und belohnt wurden? Dies bezahlten wir mit dem Preis, dass wir Kontakte zu Menschen nicht mehr wahrnehmen, die uns so lieben, wie wir sind, und die sich wünschten, dass wir geblieben wären, wie wir waren. Wir sollten uns selbst darüber betrauern, dass wir uns so sehr abhängig gemacht haben vom Schein des Erfolges, dass wir sogar unsere persönliche Würde und unsere Einzigartigkeit für unser berufliches Vorwärtskommen opferten.
Lassen Sie mich noch ein eher unbedeutendes alltägliches Beispiel anführen.
Eine junge, hochbegabte Managerin, die eine schmerzvolle Scheidung hinter sich hatte, durchlief ein Eignungsdiagnostikprogramm in unserem Institut mit Bestnoten. Sie wurde kurz vorher wegen ihrer angeblich demotivierenden Ausstrahlung entlassen, welche sich aber eindeutig auf ihr Trennungserlebnis zurückführen ließ. In einem Brief an ihren Vorstand versuchte ich diesen Sachverhalt zu beschreiben und wies auf die exzellenten Testergebnisse hin mit der Bitte, die Entlassung zu überdenken. Dieser Brief, von einem in seinen Augen so unbedeutenden Menschen wie mich, rief höchste Empörung hervor. Ich erhielt sehr besorgte Anrufe von Mitarbeitern, die sich normalerweise für Mobbingopfer einsetzen. Sie fragten mich, ob ich mir bewusst sei, welchen Schaden ich für die Reputation meiner Person ausgelöst habe. Ich antwortete, dass ich bisher geglaubt hätte, dass ihr Kampf gegen Mobbing unabhängig von der Hierarchiestufe des Täters sei, und ich erwarte, dass sie diese Haltung gerade in dieser Situation unter Beweis stellen. Daraufhin bewiesen sie den Mut der Rückendeckung, auch wenn wir die Entlassung dadurch leider nicht mehr rückgängig machen konnten.
Warum passte sich Liu Shao-Chi nicht an?
In seiner jahrzehntelangen Machtherrschaft über ein Viertel der Weltbevölkerung war Mao Tse-Tung für den Tod von 70 Millionen Chinesen verantwortlich. 1958 schloss sich ihm Liu Shao-Chi, die Nummer zwei im Staat, an, der ein Jahr später, 1959, zum Staatspräsidenten neben Mao ernannt wurde.
Anders als bei Mao setzte die durch die Misswirtschaft herbeigeführte Hungersnot Liu Shao-Chi persönlich sehr zu. Als er eines Tages sein Heimatdorf in Hunan besuchte, wurde er hautnah mit dem Elend durch die Begegnung mit seiner eigenen Familie konfrontiert. Auf einem Spaziergang durch das Dorf entdeckte er auf einer Mauer die Aufschrift: »Nieder mit Liu Shao-Chi«. Er spürte, wie die Menschen den Kommunismus hassten – und ihn auch! Den Jungen, der die Mauer beschrieb, nahm Liu persönlich in Schutz. Liu zeigte Verständnis für den kleinen Jungen, der durch die Hungersnot sechs Familienmitglieder verlor und dessen Babybruder im seinem Arm verstarb, als er ohne Erfolg nach einer stillenden Frau suchte. Liu erkannte sein eigenes Mitverschulden für dieses Elend, kniete vor den Dorfbewohnern nieder und entschuldigte sich für die Missherrschaft der Kommunisten.
Von da an war er nur noch von dem Wunsch getrieben, der Landbevölkerung zu helfen. Er stellte sich den Behörden quer und veranlasste, dass der Diebstahl von Lebensmitteln nicht mehr verfolgt wurde, und ging bewusst auf Abstand zu Mao.
Als die Erntezeit näher rückte, war Mao im Begriff die Abgabequoten für Lebensmittel festzulegen. Der couragierte Liu drängte Mao, niedrigere Quoten zu bestimmen. Liu war sich bewusst, dass sein Handeln die Spannungen zwischen ihm und Mao vergrößern würde. Mao musste akzeptieren, dass die Abgabequoten um über 34 Prozent niedriger angesetzt wurden, als er die Zahlen Anfang des Jahres festlegte. Durch Lius Maßnahmen sank die Quote der Hungertoten um 50 Prozent. Trotzdem verhungerten noch weitere zwölf Millionen Menschen. Lius Eifer war aber nicht mehr zu stoppen. 1962 legte er Mao einen Hinterhalt, der die Eindämmung der Hungersnot zum Ziel hatte.
Auf der Konferenz der »Siebentausend« in Peking wollte Mao, dass Liu Maos Rede bei der einzigen Plenarsitzung am 27. Januar 1962 vortrug. Zu Maos Überraschung hielt Liu nicht die geplante Rede. Er hielt eine Rede, die sich davon deutlich unterschied. An diesem besagten 27. Januar nahm Liu Shao-Chi seinen ganzen Mut zusammen. Er wagte es, vor den 7000 Spitzenfunktionären Maos Politik anzugreifen. Liu klärte über die Hungersnot und das herrschende Elend auf. Er regte die Leute an, über Maos Politik kritisch nachzudenken. Lius Rede löste, wie erwartet, stürmische Reaktionen beim Publikum aus. Nun aber wussten die Delegierten, dass der Präsident, Liu, hinter ihnen stand, und äußerten ungeniert ihre Meinung, verurteilten die alte Politik und bestanden darauf, dass diese auf keinen Fall wiederholt werden dürfe! Mao machte sich nun wohl oder übel an die Schadensbegrenzung, damit keiner auf die Idee kam, die Hungersnot mit seiner Person zu verbinden. Er war gedrängt, am 30. Januar 1962 vor versammeltem Saal das erste Mal seit seiner Machtergreifung 1949 Selbstkritik zu üben. Mao war gezwungen, die fatalen Quoten der Lebensmittelabgaben abzuschaffen, die für 1962 und später vorgesehen waren. Millionen von Menschen blieb durch diese Verordnung, die durch Liu ins Rollen gebracht wurde, der Hungertod erspart. Somit wurde das Jahr 1962 zu einem der freiheitlichsten Jahre seit Beginn von Maos Herrschaft.
Doch Liu wusste, dass ihn Mao nicht einfach so davonkommen lassen würde. Der sonst so zurückhaltende Liu blieb sehr leidenschaftlich und sprach oft über die Not des chinesischen Volkes. Währenddessen plante Mao seine Rache.
Während der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 versuchte Mao alles, um Liu und seine Familie zu demütigen. Jedes Mal, wenn sich Liu mit Worten zu wehren versuchte, wurde er von den Maoanhängern mit ihren roten Büchern niedergeschlagen. Liu wurde in seinem eigenen Haus gefangen genommen und gequält. Er bewahrte aber dennoch seine Würde: Im Februar 1968 hatte er eine letzte Verteidigungsschrift verfasst, in der er Mao sogar wegen seines diktatorischen Stils in den zwanziger Jahren angriff. Mao war sehr aufgebracht, weil er Lius Willen nicht brechen konnte, und setzte alles daran, Lius Stimme zum Schweigen zu bringen.
Liu wurde mitten in einer Nacht halb nackt in ein Flugzeug nach Kaifeng verfrachtet. Nachdem die Bitten, Liu in ein Krankenhaus aufzunehmen, abgelehnt wurden, verstarb Liu Shao-Chi.
Resümee: Liu Shao-Chi überlegte sich, was wichtig für ihn war. Karriere oder seine Glaubwürdigkeit? Ihm war das Leben seines Volkes mehr wert als die Konsequenzen, die ihn erwarteten. Sein Leitbild blieb seine persönliche Überzeugung. Mit Liebe gegenüber seinem Volk und Mut gegenüber dem Staatspräsidenten Mao konnte Liu die Authentizität aufbringen, die für seine Auflehnung gegen Mao nötig war. Wenn Liu in dieser Schlüsselszene am 29. Januar 1962 nicht so mutig gewesen wäre, hätten noch viele weitere unschuldige Menschen ihr Leben lassen müssen. Er hat sich und seine ganze Existenz bewusst dafür geopfert, dass andere Menschen ein freieres Leben führen konnten.
Sind wir noch fähig zum Mut?
In meinem Institut stelle ich Klienten seit Jahren immer wieder die gleichen drei Fragen:
Was bevorzugen Sie: Freiheit oder Unfreiheit?