Tödliche Offenbarung. Cornelia Kuhnert
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Tödliche Offenbarung - Cornelia Kuhnert страница 16
Als die Sirenen heulten, kurz bevor die amerikanischen Kampfbomber am Himmel auftauchten, war ich unterwegs nach Hause, dick bepackte Taschen hingen an meinem Lenker. Ich fuhr so schnell wie noch nie in meinem Leben unter der Bahnunterführung durch. Da hatten sich etliche untergestellt. Ich bog links bei uns in die Riemannstraße ein. Überall flüchteten die Leute in die Häuser. Bunker gab es ja nicht. Nur Keller.
Das Summen der Bomber kam näher, wurde bedrohlicher. Es war, als wenn ein Schwarm riesiger Raubvögel auf uns zukäme, immer näher, immer dichter.
Zuhause bin ich gleich hinunter zum Keller gerast. Ich riss die |81|Tür auf, sprang hinein. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Mein Ältester, der Wilhelm, saß schon da und hatte meinen Kleinen in Sicherheit gebracht. Noch nie war ich so erleichtert. Ich habe vor Glück geheult. Wirklich wahr. Um uns tobte die Hölle und ich heulte vor Glück. Aber nicht lange. Dann ging die erste Bombe ganz bei uns in der Nähe mit einem ohrenbetäubenden Knall nieder. Panik stieg in mir hoch. Immer mehr Bomben fielen in unserem Viertel. Gesehen haben wir nichts. Wir hörten nur das Krachen und die Schreie. Mein Kleiner schrie die ganze Zeit, genau wie die Nachbarin. Nach ein paar Minuten ging das Licht aus und plötzlich war alles dunkel. Ich hab den Atem angehalten und gebetet. Das Haus wackelte, die Wände zitterten, Putz rieselte von den Mauern und Staub lag in der Luft. Die Kellerfensterscheiben platzten vom Druck der Bombenexplosionen, Mörtel bröckelte ab.
Als wir später aus dem Keller krochen, war die Stadt voller Rauch. Sirenen heulten, überall Schreie und Hilferufe. Die Brücke bei der Bahn war getroffen und die Leute, die sich dort untergestellt hatten, waren verschüttet. Schrecklich, diese Schmerzensschreie. Ich höre die heute noch manchmal im Schlaf.
Ja, Ihre Leute haben ganze Arbeit bei diesem Angriff geleistet, das muss man mal sagen. Dabei haben wir hier in Celle doch gar nichts gemacht. Überhaupt nichts. Hier waren nur Zivilisten.
Schmeckt der Kaffee? Der ist frisch geröstet. Von Huth am Großen Plan. Der war früher sogar Königlicher Hoflieferant. Möchten Sie noch eine Tasse? Bitte, die Milch, nehmen Sie!
Der Güterbahnhof selbst bekam einiges ab. Natürlich. Der ist ja gleich dahinten. Wenn Sie aus dem Fenster gucken, können Sie die Gleise sehen.
|82|Ja, Züge wurden auch getroffen. Wieso fragen Sie immer danach?
Mag sein, dass ein Transport mit Menschen dabei war. Irgendwelche Zuchthäusler. Darüber weiß ich nichts Genaueres. Ich muss jetzt in die Küche. Das Mittagessen kochen. Mein Mann kommt gleich nach Hause.
26
Der grüne Nissan ruckelt über den holperigen Feldweg. Kevin sitzt neben Matusch und dreht sich immer wieder um. Felix liegt geknebelt und mit Kabelbindern gefesselt auf der Ladefläche, über ihm ist eine muffig riechende Decke ausgebreitet. Bei jedem Schlagloch hüpft er ein paar Zentimeter hoch und rollt zur Seite. Der Weg führt immer tiefer ins Moor, rechts und links flankiert von schmalen, jetzt trocken gefallenen Entwässerungsgräben. Birken und Eichen, wohin das Auge schaut, dazwischen Heidekraut, ab und zu ein Wacholderbusch.
Plötzlich hält Matusch an und springt mit Schwung aus dem Auto. Er hebt die Decke hoch, holt das Messer mit dem Walnussgriff aus der Seitentasche seiner Hose und wiegt es in der Hand. Wörstein hat ihm das in Russland hergestellte Springmesser zu seinem letzten Geburtstag geschenkt. Matusch klappt einen Hebel um und drückt drauf. Im nächsten Moment springt die scharfe Klinge heraus.
»Was hast du vor?« Kevin behagt die Situation nicht. Die Waffe ist kein gutes Zeichen, genauso wenig wie die Pistole, die seit heute Morgen im Handschuhfach liegt. Eine alte |83|Heckler & Koch, die Wörstein Matusch vor Wochen mit den Worten überlassen hat: Pass gut auf sie auf. Das ist eine der ersten Selbstladepistolen. Mittlerweile sind die verboten – wie alles, was gut ist.
Matusch grinst seinen Kameraden an. »Ein bisschen Spaß haben.« Er bückt sich zu Felix herunter und zieht ihn an den Füßen zum Ende der Klappe.
»Aber …«
»Was ist los?« Matusch geht mit der spitzen Messerschneide zwischen Felix’ Beine. Ein Ratsch und der Kabelbinder fällt auseinander. Ein zweiter Ratsch und der an den Händen ebenfalls.
»Haste etwa Mitleid mit dem Weichei?« Matusch schmeißt seinen Gefangenen mit Schwung von der Transportfläche. Mit lautem Krachen landet Felix auf dem staubigen Boden. »Wenn wir nicht zubeißen, beißen die uns.«
Felix’ Rippen schmerzen, sein Kopf und die Beine sowieso. Was soll er tun? Die in der Sonne glitzernde Klinge des Messers macht ihm Angst. Sein Herz schlägt heftig und sein Magen zieht sich zusammen. Was hat dieser Matusch vor? Felix starrt an den schwarzen Stiefeln und der dunklen Jeans hoch. Will der ihn etwa erstechen? Er schließt die Augen und wünscht sich, er wäre schon tot.
Dann ein metallenes Ratschen. Felix spürt plötzlich etwas Warmes auf seinem Bein. Etwas Feuchtes. Er schlägt die Augen auf.
Der kräftige Urinstrahl von Matusch durchdringt das Gewebe seiner beigen Cargohose. Der Stoff klebt bereits an der Wade. Der Strahl wandert weiter zu seinem T-Shirt und macht auch vor seinem Gesicht nicht halt. Felix schließt die |84|Augen wieder. Ekel und Angst füllen ihn aus. Noch nie hat er sich so gedemütigt und erniedrigt gefühlt. Noch nie hat er so viel Angst gehabt.
Schließlich versiegt der Strahl und das Ratschen des Reißverschlusses ist erneut zu hören. Vorsichtig öffnet Felix die Augen einen winzigen Spalt. Matusch grinst ihn breit an.
»Los, Arschgesicht, auf geht’s. Wenn es nach mir ginge, wäre jetzt Feierabend für dich. Mit Schnüfflern macht man kurzen Prozess.« Matusch spuckt vor ihm auf die Erde. »Steh auf.«
Langsam kommt Felix hoch. Die feuchte Hose und das Hemd kleben an ihm. Der Knebel in seinem Mund ist nass. Beißender Uringeruch steigt ihm in die Nase, doch zum Ekeln hat er keine Zeit. Kaum steht er halbwegs, bekommt er von Matusch einen Tritt in den Hintern.
»Hast Glück, weil du Karl mal geholfen hast. Er gibt dir eine Chance. Also los, renn.« Matusch grinst breit. »Laufen, habe ich gesagt.« Dann dreht er sich um, geht zum Auto und greift ins Handschuhfach.
Felix wartet nicht so lange. Ohne Kevin noch einmal anzusehen, setzt er sich in Bewegung. Rechts am Weg stehen dichte Büsche. Daneben drei dünnstämmige Birken. Das könnte seine Rettung sein.
Kaum ist Felix ein paar Meter in diese Richtung gelaufen, hört er einen Knall. War das ein Schuss? Felix dreht sich um und entdeckt Matusch neben dem Nissan. In der Hand eine Pistole. Schon folgt der nächste Schuss. Felix hört den Einschlag der Kugel im Baum neben sich. Wie von Sinnen beschleunigt er seine Schritte.
|85|»Ey, wie geil ist das denn?«, hört er Matusch juchzen. Dann knallt es erneut und eine Pistolenkugel streift die Birke rechterhand.
27
Martha legt das Blatt auf den Stapel. Schreckliche Zeit damals. Keine Frage. Trotzdem kann sie nicht sagen, dass dieses Interview sie sonderlich berührt. Natürlich hat die Zivilbevölkerung gelitten. In Hamburg und Dresden sehr viel stärker als in Celle. Häuserzeilen wurden getroffen, ganze Stadtviertel ausradiert. Menschen starben, andere mussten fliehen und die Heimat verlassen. Über all das hat man tausendmal berichtet. Martha hat so viele Bilder vom Krieg gesehen, dass es sie nicht mehr betroffen macht. Mehr noch. Sie will sie nicht mehr sehen. Fünfundsechzig Jahre nach Kriegsende ist der Krieg Geschichte geworden.