Tödliche Offenbarung. Cornelia Kuhnert
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Adalbert Messerschmidt, Jahrgang 1910, 42 Jahre alt, Maschinenschlosser, wohnhaft Riemannstraße
Guten Morgen, junges Fräulein. Ich habe schon gehört, dass Sie eine ganz Neugierige sind. Also, hereinspaziert, setzen Sie sich und schießen Sie los.
An den 8. April 1945 kann ich mich gut erinnern. An jenem Sonntagmorgen habe ich ausführlich die Wochenendausgabe |86|der Celleschen Zeitung gelesen. Es gab die Tipps für den Gartenfreund und den neuen Teil des Fortsetzungsromans von Hermann Löns: Der Wehrwolf. Gerade an jenem Tag war es besonders spannend. Der Wulfsbauer und die anderen jagten ihre Feinde wie die Hasen.
Kennen Sie das Buch? Nein? Das müssen Sie lesen.
Ja, kommen wir zu dem Sonntag zurück. Ich hatte zu der Zeit Genesungsurlaub, eine Beinverletzung aus Frankreich. Damals …, ich will jetzt nicht zu weit ausholen, aber ich hinke noch heute wegen dieser Granatsplitter. Ich kann froh sein, dass ich so glimpflich davongekommen bin. Viele meiner Kameraden hat es viel schlimmer erwischt. Manche sind gar nicht wieder heimgekommen.
An jenem Sonntag ist meine Frau mit unserer Tochter am späten Vormittag in der Schuhstraße gewesen. Das war eine seltsame Stimmung an jenem Tag. In der Zeitung wurden zwar immer noch Durchhalteparolen verkündet, aber die Front rückte näher, das wusste jeder. Keiner ließ sich durch den Fliegeralarm abschrecken. Meine Frau und unsere Tochter, die Marianne, haben ihre Einkäufe erledigt und sind gegen Mittag zurückgekommen. Meine Frau war müde. Sie hat Herzprobleme, seit unser Sohn an der Ostfront gefallen ist. Da ist sie bis heute nicht drüber weg.
Ich habe nach dem Mittagessen im Garten gearbeitet. Der Frühling lag in der Luft und ich wollte den Boden vorbereiten, um die Einsaat …
Ja, mein Garten liegt direkt gegenüber vom Güterbahnhof.
Ein Zug stand dort. Stimmt. Der war ziemlich lang und hatte offene Metall- und Holzwaggons, in denen Leute saßen. Immer wieder haben sie etwas aus den Waggons getragen. Was die Leute anhatten? So genau konnte ich das auch nicht sehen, ich habe |87|mir ja kein Fernglas geholt. Außerdem waren die meistens in Decken gewickelt.
Also gut, der Stoff war gestreift. Die SS-Leute standen direkt neben dem Zug; die hatten Gewehre geschultert, manche sogar im Anschlag. Ich habe mich da nicht weiter drum gekümmert. Ich misch mich nicht in Dinge ein, die mich nichts angehen. Das bringt nichts. Nur Ärger.
Bei der Bombenwarnung ging ich mit der Marianne und meiner Frau sofort in den Keller. Der ganze Wahnsinn dauerte dann eine Stunde. Danach lag die Gegend um den Bahnhof herum in Trümmern. Überall nur Dreck und Qualm. Immerzu hörte man es krachen und ununterbrochen schrie jemand. Es stank fürchterlich nach Verbranntem, und kleine schwarze Papierfetzen schwebten wie Schneeflocken vom Himmel.
Ob uns etwas aufgefallen ist? War das nicht genug?
Was danach war?
Wo Sie so fragen – etwas irritierte mich damals. Als der Fliegeralarm kam, musste ich meine Laube überstürzt verlassen. Nicht einmal abgeschlossen hatte ich. Später am Abend bin ich zurück in den Garten, wollte nach dem Rechten sehen und meine Jacke holen. Die hatte ich am Nachmittag liegengelassen. Aber sie war weg. Meine Arbeitssachen fehlten auch. Sogar die Flasche Korn, die zur Reserve dort stand, falls jemand mal zu Besuch vorbeikäme.
Stattdessen lag ein Haufen schmutziger, graublau gestreifter Kleidungsstücke unter der Sitzbank und ein paar blutige Stofffetzen aus dem gleichen Material.
Nein, ich habe nicht weiter darüber nachgedacht, sondern bin in die Wohnung gegangen. Und jetzt ist es genug, auf Wiedersehen.
|88|Dora Müller, Jahrgang 1908, 44 Jahre alt, Stenotypistin, wohnhaft Denickestraße
Sie wohnen also bei der Elfriede. Setzen Sie sich, Fräulein Clara. Wollen Sie eine Tasse Kaffee trinken? Und ein Stück Butterkuchen? Wirklich nicht? Aber Sie sehen ganz mitgenommen aus. So schmal. Hier, bitte, seien Sie nicht so schüchtern.
Es ist schön, Besuch zu bekommen. Als Witwe ist man viel allein. Mehr als einem lieb ist. Früher, als mein Mann noch lebte, … Aber lassen wir das. Sie sind so jung, Sie sollten sich mit diesen alten Geschichten nicht plagen. Das ist alles vorbei und vergessen. Das interessiert keinen mehr. Schon gar nicht in Amerika. Genießen Sie lieber das herrliche Wetter. Da hinten im Neustädter Holz kann man wundervolle Spaziergänge machen oder im Wietzenbruch. Da ist es richtig idyllisch, eine wunderbare Heidelandschaft. Gehen Sie dort den Hermann-Löns-Weg entlang.
Was, Sie kennen unseren Heimatdichter nicht? Der hat so schöne Gedichte über die Heide geschrieben, auch einiges über Celle. Der hat die Seele der Menschen hier verstanden.
Das Ende des Krieges war eine schlimme Sache. Alle reden ja immer nur davon, was wir Deutschen angeblich gemacht haben. Keiner redet von dem Leid, das wir erlitten haben. Da wurde keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen. Überhaupt nicht. Ganz zum Schluss fielen Bomben auf Celle. Völlig überflüssig, der Engländer stand doch sowieso vor den Toren. Das wussten alle, trotzdem mussten die Amis vorher alles kaputtmachen.
Ja, das war der 8. April, ein Sonntag. Ich kann mich genau erinnern. Meine Mutter war früh in die Stadt gegangen. Es sollte Bohnenkaffee geben. Endlich mal wieder. Kaffee war zu der |89|Zeit eine Rarität. Ich blieb zu Hause, weil ich am Nachmittag arbeiten musste.
Erst gab es Voralarm. Dreimal kurz mit der Sirene. Das war am Vormittag. Hat aber keiner drauf reagiert. Meine Freundin kam gegen Mittag vorbei und sagte, dass die Erdölraffinerie in Nienhagen getroffen sei. Alles brannte dort lichterloh und man sah von meinem Küchenfenster aus den schwarzen Rauch am Himmel. Sie wollte mit dem Fahrrad dorthin fahren. Das ist nämlich eine ganz Neugierige, die Babette; aber ich blieb daheim. Schließlich habe ich drei Kinder und mein Mann ist im letzten Kriegswinter gefallen. Da konnte ich mir solche Sperenzien nicht erlauben.
Vorsichtshalber habe ich wegen des Alarms unseren Keller überprüft. Ich hatte so ein komisches Gefühl, aber mein Ältester, der Herbert, hatte alle Fenster vernagelt, sogar die Wände mit Kanthölzern versteift. Der Herbert war mir mit seinen 14 Jahren sowieso eine große Hilfe. Auf den konnte ich mich immer verlassen. Nur in jenen Tagen war er kaum da. In den Osterferien hatten die mit so einem Wehrertüchtigungslager in der Hehlentorschule angefangen und jeden Tag gab es Übungen. An dem Morgen hatte er mir stolz erzählt, dass er vielleicht sogar als Flakhelfer ran dürfte. Da habe ich gelacht. Die Flak war doch bis dahin in Celle noch nie zum Einsatz gekommen.
Meine Mutter kam mit dem Kaffee und dem frischen Brot gegen drei Uhr am Nachmittag zurück, das weiß ich genau. Sie musste auf die kleinen Kinder aufpassen. Ich musste ja zum Schloss, da habe ich nämlich als Stenotypistin gearbeitet. Im Schloss war die Luftschutz-Befehlstelle unter dem Befehl von Oberbürgermeister Meyer untergebracht.
Nein, mit dem hatte ich nicht viel zu tun. Ich saß nicht bei |90|ihm im Zimmer, das war die Elvira, aber natürlich hat man das eine oder andere mitbekommen, Elvira redet gerne.
Martha geht zum Wasserhahn und trinkt einen Schluck Leitungswasser. Vom Fenster aus sieht sie Beckmanns Auto auf den Hof fahren. Er scheint neue Prioritäten