Ruanda. Gerd Hankel

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sollte die gesamte gewaltgeprägte Vergangenheit Gegenstand öffentlicher Debatte werden. Die individuell-faktische oder forensische Wahrheit (factual or forensic truth) sollte übergehen in die von einem größeren Personenkreis geteilte persönliche oder narrative Wahrheit (personal or narrative truth), die wiederum zu einer sozialen oder dialogischen Wahrheit (social or dialogue truth) und am Ende zu einer die ganze Gesellschaft erfassenden heilenden und restaurativen Wahrheit (healing and restorative truth) werden sollte.48 Mit anderen Worten, die Wahrheits- und Versöhnungskommission hatte die Aufgabe, eine Vereinbarkeit der beiderseitigen Opfer- und Tätererfahrungen herzustellen, um dann über einen zentralen Aspekt dieser Erfahrungen, nämlich korrespondierende Leidensgeschichten, die Voraussetzung für einen inneren Frieden in der Gesellschaft zu schaffen.

      Außer den hier skizzierten vier verschiedenen Wegen, mit einer gewaltvollen Vergangenheit in einer Weise umzugehen, die deren destruktives Potenzial möglichst unschädlich macht, gab und gibt es bekanntlich noch andere Ansätze, die den Besonderheiten des vorangegangenen Konflikts Rechnung tragen.49 Dennoch können die dargestellten Beispiele als ein Muster gesehen werden, das Strukturen und Konstanten von Übergangsszenarien aufweist, die auch eine Einordnung der für und in Ruanda gewählten Lösung erlauben. Fassen wir auf dieser Grundlage das wesentliche Ergebnis noch einmal kurz zusammen (ich gehe dabei, wie eingangs angesprochen, von der Prämisse aus, dass die justiziell festgestellte Wahrheit nicht Gerechtigkeit bedeuten muss, dass sie aber eine Annäherung an das, was in der betroffenen Gesellschaft als gerecht empfunden wird, überhaupt erst möglich macht): In einer Gesellschaft, die sich durch Förderung und Akzeptanz von Verbrechen moralisch ins Abseits gestellt hat (wie die deutsche zwischen 1939 und 1945), stellt sich das Problem der Vereinbarkeit gegensätzlicher Wahrheiten nicht ernstlich. Die Opfer sind tot oder leben anderswo, den Umgang mit den vergangenen Verbrechen machen die Mitglieder der Gesellschaft, der die Täter angehören, unter sich aus. Weder Verdrängung noch Akzeptanz noch Bekenntnis können den inneren gesellschaftlichen Frieden gefährden, erfahrenes Unrecht vermag das begangene nicht ansatzweise zu beseitigen. Wo hingegen Täter und Opfer weiterhin zusammenleben, das Kräfteverhältnis annähernd gleich ist und das wechselseitig zugefügte Unrecht nach vorherrschender Überzeugung nicht in einem zu deutlichen Missverhältnis steht (so im post-franquistischen Spanien), wird vergangenes verbrecherisches Geschehen tabuisiert. Tätergruppen sind auch Opfergruppen und umgekehrt. Um des gesellschaftlichen Friedens willen soll die Vergangenheit schlicht dem Vergessen anheim fallen.

      Wo allerdings, trotz allseits begangener Verbrechen, die unterschiedliche Größe beider Gruppen das jeweils erfahrene Leid leicht in ein narratives Ungleichgewicht bringen kann (so in Südafrika nach dem Ende der Apartheid), muss durch justizielle Aufklärung und Wahrheitsfindung versucht werden, das Fundament für eine friedliche Entwicklung zu legen. Dass dieses Ziel auch durch eine relativ schnelle Racheaktion und anschließendes Beschweigen erreicht werden kann (wie das Beispiel Frankreich zeigt), erklärt sich durch die eindeutige Verwerflichkeit des Täterhandelns aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft, die sich ausschließlich als Opfer sieht. Eben dieses Opferverständnis erleichtert später wegen ihrer sozial konsolidierenden Wirkung die Hinnahme einer zweiten Wahrheit, die zu Tage bringt, dass die Opfergruppe auch erheblich mit Tätern und Mitläufern durchsetzt gewesen ist.

      Wie eine Gesellschaft, die am Anfang einer Nach-Konflikt-Phase steht, sich zu diesem Konflikt verhält, welches Maß an faktisch verifizierbarer Information sie zulässt, hängt damit im Ergebnis entscheidend von zwei Faktoren ab, von der moralisch-rechtlich gebotenen Bewertung des vergangenen Geschehens und von der konkreten Machtkonstellation. Ist das Unwerturteil eindeutig und die Wucht der verbrecherischen Botschaft derart, dass die internationale Gemeinschaft erschrocken bis empört ist, gibt es nur eine Wahrheit, und zwar die, die das Verbrechen vorgibt. Sind darüber hinaus der Machtwechsel abgesichert und das alte Regime beseitigt, stößt die Akzeptanz dieser Wahrheit auch auf keine größeren Schwierigkeiten. Anders verhält es sich dann, wenn die Zuweisung des verbrecherischen Verhaltens an nur eine Seite zweifelhaft ist und Teile des alten Regimes weiterhin politisch oder sozial präsent sind. Zur Sicherung des Friedens ist dann ein Arrangement notwendig, das sich zwischen den zwei Polen des einvernehmlichen Vergessens und der gemeinsamen Aufarbeitung bewegt.

      Gehen wir nun zurück nach Ruanda und der Situation dort, bevor eine Haltung zur Vergangenheit entwickelt wurde: Im Juli 1994 war das Land von der Armée Patriotique Rwandaise (APR), dem militärischen Arm der Rebellenorganisation Front Patriotique Rwandais (FPR), erobert worden, der Völkermord war beendet. Am 4. Juli waren APR-Kämpfer in die Hauptstadt Kigali einmarschiert, am 17. des Monats hatten sie die letzte größere Stadt, Gisenyi, im Nordwesten des Landes an der Grenze zu Zaire, besetzt. Zwei Tage später hatte die FPR infolge des vollständigen Sieges beschlossen, ihre Kampfaktivitäten einzustellen.50 Kurz zuvor war bereits Pasteur Bizimungu, ein Hutu aus dem für seine fanatische Hutu-Ideologie berüchtigten Norden, der sich der Tutsi-dominierten FPR angeschlossen hatte, zum Staatspräsidenten des neuen, post-genozidalen Ruanda bestimmt worden. Und Faustin Twagiramungu, ein Hutu aus dem Süden, der auch in Opposition zum alten Regime gestanden hatte, sollte Premierminister werden. Das Amt des Vizepräsidenten und zugleich auch die Positionen des Verteidigungsministers und Generalstabschefs waren Paul Kagame zugedacht worden, dem Chef der FPR und Sieger des Krieges.51 Was in dem Friedensvertrag von Arusha im August 1993, also noch Monate vor dem Völkermord, vereinbart worden war, die Machtteilung zwischen Hutu und Tutsi in einer Übergangsregierung,52 war damit bekräftigt worden. Die Zeichen standen, soweit erkennbar, auf Kooperation und Verständigung. Es sollte ein Staat geschaffen werden, gegründet auf den Prinzipien der Gewaltenteilung und des Rechts und unter Beteiligung aller Kräfte und politischer Parteien, die nicht in Völkermord und Massakern verwickelt waren. Aufbau, Versöhnung und Einheit waren die Ziele, denen sich alle verpflichtet fühlten. Eine der ersten Maßnahmen der neuen Regierung war es darum, in den Ausweisdokumenten den Hinweis auf die ethnische Zugehörigkeit, während des Völkermords von buchstäblich lebensentscheidender Bedeutung, zu streichen.53

      Der Arusha-Vertrag hatte auch von der Einsetzung einer internationalen Kommission gesprochen, die die während des Krieges begangenen Menschenrechtsverletzungen untersuchen sollte.54 Jetzt, nach dem Völkermord, spricht niemand mehr von einzelnen Akten der Menschenrechtsverletzung. Jetzt handelt es sich um hunderttausendfachen Mord, um Folter und andere Grausamkeiten, die die menschliche Fantasie sich auszudenken fähig ist. Und es geht darum, ein weiteres Verharren des Landes in der Apokalypse zu verhindern. »Wir mussten versuchen, dass die Überlebenden, die Opfer mit den Tätern zusammenleben konnten, und das in einem großen Durcheinander, denn wir wussten nicht, wer wofür verantwortlich war – wer ist Opfer, wer nicht und warum, wer ist verantwortlich für das, was geschehen ist und warum – und entdeckten dabei, dass wir nirgendwo anknüpfen konnten. Wir mussten den Anfangspunkt selbst bestimmen.«55

      3,2 Millionen Menschen, fast die Hälfte der Einwohner Ruandas, waren vor der vorrückenden APR in die Nachbarstaaten Burundi, Tansania und Zaire geflüchtet, oft nach Gemeinden (communes) geordnet56 und unter Mitnahme öffentlicher Gelder, administrativer Unterlagen und Waffen. Hinter sich gelassen hatten sie ein Land im Schockzustand, ein Land, in dem bapfuye bahagazi, vom Tod gezeichnete Menschen, umherirrten und Ansammlungen von Geiern und Hunden auf die unzähligen Leichenfelder früherer Massaker hinwiesen.57 Der Staat Ruanda und mit ihm ein Großteil seiner Bewohner waren verschwunden. Ihn wieder herzustellen und bescheiden funktionsfähig zu halten, würde einen Einsatz von Menschen, Kapital und Material erfordern, der 1994 nicht zur Verfügung stand. Um ein nahe liegendes Beispiel zu wählen: Von den vormals 758 Richtern gab es im November 1994 noch 244, von den 70 Staatsanwälten noch 12 und von den 631 Mitarbeitern in Justizbehörden noch 137.58 Richter und Staatsanwälte waren überdies in der belgischen Tradition des kontinentaleuropäischen Rechtssystems ausgebildet und sprachen Französisch, was auf den Argwohn der, zumindest auf Leitungsebene, nahezu ausschließlich anglophonen FPR stieß. Diese hatte schon während des Völkermords gefordert, und die Forderung durch etliche Festnahmen untermauert, dass die für den Völkermord Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden müssten – »to end impunity«, wie der Slogan in Anspielung auf die Straflosigkeit ethnisch motivierter Straftaten in der ruandischen Vergangenheit lautete – und waren darin von allen

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