Ruanda. Gerd Hankel
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Mit diesem Vorsatz standen beide Bevölkerungsgruppen nicht allein. Die internationale Gemeinschaft, über deren Versagen zur Verhütung und Bekämpfung des Völkermords schon viel geschrieben worden ist,60 richtete im November 1994 einen Strafgerichtshof ein, dessen Aufgabe es war, Völkermordverbrechen und »systematische, weitverbreitete und flagrante Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht«, die zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 1994 begangen worden waren bzw. noch begangen werden sollten, zu ahnden.61 Nach dem Willen des UN-Sicherheitsrats sollte sich der Gerichtshof, dem Beispiel des im Mai 1993 geschaffenen Jugoslawien-Tribunals folgend (mit dem es im Übrigen organisatorisch eng verzahnt war), auf ehemals hochrangige, einflussreiche Täter konzentrieren, um durch deren Bestrafung »zur nationalen Aussöhnung wie auch zur Wiederherstellung und Wahrung des Friedens« beizutragen.62
Dass Ruanda, das 1994 nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats war, als einziges Mitglied dieses Gremiums gegen die Einsetzung des Ruanda-Tribunals stimmte, mutet vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung und etlicher inhaltsgleicher Erklärungen ruandischer Politiker in den Monaten zuvor befremdlich an. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Die Gegenstimme markierte jedenfalls einen deutlichen Missklang, der sich bis heute, mal mehr, mal weniger klar vernehmbar, durch das Verhältnis zwischen dem »Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda« und Ruanda selbst zieht. Das Tribunal sei nicht effizient genug, blind für die ruandische Geschichte und Kultur und unsensibel gegenüber den Überlebenden, lauten die Vorwürfe. Auch darauf wird noch zurückzukommen sein.
Ende August 1996 wurde vom ruandischen Übergangsparlament das erste Gesetz verabschiedet, das eine strafrechtliche Ahndung von Völkermordverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermöglichen sollte.63 In den gut zwei Jahren, die seit dem Völkermord vergangen waren, war mit Hochdruck an dem Wiederaufbau der Justiz gearbeitet, waren Staatsanwälte und Richter ausgebildet worden und hatten in Kigali Konferenzen stattgefunden, die internationales Wissen über den Umgang mit Massenverbrechen vermitteln wollten.64 Das Gesetz wies die Verfahren noch zu bildenden Sonderkammern bei den ordentlichen Gerichten und den Militärgerichten zu (Artikel 19). Die Tatverdächtigen wurden je nach Tatschwere in vier Kategorien eingeteilt, vom Organisator des Völkermords und Massenmörder über den einfachen Mörder und Schläger bis hinunter zum Plünderer (Artikel 2). Die Höchststrafe konnte auf Tod lauten, doch bestand generell die Möglichkeit, das Strafmaß durch ein frühes Geständnis erheblich zu mildern (Artikel 15 und 16), im günstigsten Fall sollte z. B. ein Mörder nur eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren erhalten. »Durch ein System, das geringere Strafen für geständige Verdächtige vorsah, sollte dazu beigetragen werden, die Wahrheit über das, was zwischen 1990 und 1994 geschehen war, herauszufinden«, meinte dazu Martin Ngoga, von Juli 2006 bis Oktober 2013 Generalstaatsanwalt von Ruanda, und im Hinblick auf die Kategorisierung der Täter fügte er hinzu »sie berücksichtigte den Umstand, dass zwar die Beteiligung der Bevölkerung am Völkermord sehr hoch gewesen war, doch nur eine kleine Zahl von Führern den Völkermord geplant und dazu aufgerufen hatte. Die Kategorisierung der Verdächtigen entsprach dem Grad ihrer Verantwortlichkeit für begangene Verbrechen.«65
Unumstritten war der justizielle Weg nicht, trotz regelmäßiger Bekenntnisse zur einheits- und friedensbildenden Kraft der Justiz. Besonders die Strafmilderungen wurden von Überlebenden und Abgeordneten als viel zu großzügig, als nur notdürftig kaschierte Form der Amnestie kritisiert. Sie forderten höhere Strafen vor allem für Völkermordverbrechen, da diese nicht mit den aus anderen Gründen als der ethnischen Vernichtung begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichgestellt werden dürften.66 Wie um diese Stimmen zu besänftigen, boten die ruandischen Justizbehörden der Öffentlichkeit am 24. April 1998 ein besonderes Schauspiel: 21 Männer und eine Frau wurden auf Plätzen oder in Stadien im Norden, Süden, Osten und Westen des Landes erschossen. Sie waren von den Sonderkammern in Gerichtsverfahren, die in aller Kürze eine vorher feststehende Schuld bestätigten, zum Tode verurteilt worden.67 »Die Verabreichung einer schmerzhaften Medizin war nötig, um unsere kranke Gesellschaft zu heilen; es war eine Demonstration für alle, dass die Tage der Straflosigkeit vorüber waren und jeder sich seiner Verbrechen stellen musste«, lautete der entsprechende Kommentar in einer Zeitung,68 und schmerzhaft, wenn auch nicht in durchweg lebensverkürzender Finalität, war die Medizin allemal. Für die Hälfte der etwa 1200 Personen, die sich zwischen Dezember 1996 und Dezember 1998 vor Gericht zu verantworten hatten, lautete das Urteil auf Tod (18,21 %) oder lebenslange Inhaftierung (32,1 %). Fast ein Fünftel der Angeklagten (17,97 %) war immerhin freigesprochen worden,69 was als Beleg dafür angeführt wurde, dass die ruandische Justiz keinesfalls, wie von exilruandischen Kreisen in Europa und Nordamerika behauptet,70 eine Rachejustiz sei. Sie habe beachtliche Fortschritte gemacht und die Verfahren entsprächen internationalen Standards, hieß es in einem UN-Bericht.71
Damit war das Thema abgeschlossen, zunächst zumindest, und das Augenmerk konnte auf ein anderes Problem gerichtet werden, das täglich größer wurde. Nach Ruanda zurückkehrende Hutu-Flüchtlinge, die der Teilnahme am Völkermord beschuldigt wurden, ließen die Zahl der Gefängnisinsassen rasant steigen. Über 120 000 waren es um die Jahrtausendwende, zehnmal mehr, als Haftraum in den ohnehin desolaten ruandischen Gefängnissen vorhanden war.72 Weiterhin ausschließlich auf die Tätigkeit der Sonderkammern zu setzen, wäre einem Todesurteil für die allermeisten Häftlinge gleichgekommen. Selbst wenn die durchschnittliche Zahl von jährlich tatsächlich nur rund 600 Verfahren um ein Mehrfaches erhöht worden wäre, hätte es leicht länger als ein Menschenleben gedauert, bis alle Verfahren eröffnet worden wären. Eine Lösung für diese menschenunwürdige Situation musste gefunden werden und sie wurde in der ruandischen Geschichte gefunden. »Gacaca« lautete das Zauberwort, das nicht nur die schnelle Schaffung vieler tausend Gerichte garantieren, sondern auch den Prozess der Einigung und Versöhnung unter den Ruandern beschleunigen und zugleich festigen sollte. »Die Wahrheit über all das herauszufinden, was in Ruanda geschehen ist: wer 1994 in welcher Zelle73 lebte, wer dort nicht mehr lebt, wer getötet worden ist, wer getötet hat, was zerstört worden ist, usw.«, das sei, gefolgt von der Bestrafung der Hauptverantwortlichen und der Beschleunigung der Prozesse, das oberste Ziel der zu reaktivierenden Gacaca-Justiz, wie ein Minister Ende 1999 erklärte.74 Inhaltlich orientierte sich das Gacaca-Gesetz vom 26. Januar 2001 an den Kompetenzen der Sonderkammern, das heißt, wie diese sollten die Gacaca-Gerichte die mutmaßlichen Täter von Völkermordverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit kategorisieren, bestrafen und dabei die Einsicht in das begangene Unrecht mit weitreichenden Strafnachlässen belohnen. Zwei gewichtige Unterschiede gab es allerdings: Die Richter und – erstmals in der Geschichte der Gacaca-Justiz – Richterinnen waren keine Berufs-, sondern Laienrichter, und einen Staatsanwalt bzw. Verteidiger gab es nicht. Die lokale Bevölkerung, mit Tat und Tatort vertraut, sollte be- oder entlastende Informationen liefern, die von ihr gewählten Richterinnen und Richter sollten das Urteil sprechen.75
Die Haltung zur Vergangenheit, die sich bis zum Jahr 2002 in Ruanda entwickelt hatte, stellte sich damit wie folgt dar: Nachdem Krieg und Völkermord beendet und das alte Regime besiegt worden waren, fiel bald die Entscheidung, die Vergangenheit strafrechtlich aufzuarbeiten, und zwar auf internationaler und nationaler Ebene. Art und Dimension der Verbrechen erheischten eine einmütige Verurteilung, sie gaben die Wahrheit vor, die konsensuell benannt und solidarisch unter Rechtsnormen subsumiert werden sollte. Begriffe wie »Sieger« oder »Besiegte« waren diesem Vorgang fremd, Gegensätzliches musste, wie es schien, nicht in einen Ausgleich gebracht werden. Zum spanischen Modell der Vergangenheitsaufarbeitung könnte der Unterschied größer nicht sein, obwohl wie dort Täter und Opfer in einem Land zusammenleben mussten. Im Vergleich zu Frankreich fällt wegen der 22 öffentlichen Exekutionen allenfalls die Parallele zum Säuberungsfuror der Post-Kollaboration auf. In Südafrika, wo die Verbrechen der Vergangenheit auch öffentlich verhandelt wurden, hatte die Wahrheits- und Versöhnungskommission keine Bestrafungskompetenz. Außerdem waren es die Verbrechen beider Seiten, die dort zur Verhandlung standen. Und mit Deutschland hatte Ruanda zwar die Verbrechensbezeichnung gemein und auch der jeweiligen Einsetzung einer internationalen Strafinstanz können ähnliche Hoffnungen und Ziele unterstellt werden, ansonsten aber war die Ausgangslage völlig verschieden, vor allem darum, weil in Ruanda Täter und Opfer