Ruanda. Gerd Hankel
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Mit einer Handbewegung erteilt er sodann dem Gerichtssekretär das Wort, der in sehr gedrängter Form die bisher bekannten Anklagen verliest: Damscène R. soll im April 1994, mit einem Gewehr bewaffnet, viele Tutsi erschossen haben. Die Tutsi waren in die Kirche von Nyumba geflüchtet, wo sie sicher zu sein glaubten. Zusammen mit anderen Tätern ist Damscène R. zur Kirche gefahren und hat das Feuer auf die Flüchtlinge eröffnet. Anasthase N. hat ein junges Mädchen geschlagen und gezwungen, ihm das Versteck seiner Familie zu zeigen. Danach hat er das Mädchen getötet. Emmanuel B. ist angeklagt, mehrere Tutsi ermordet zu haben, unter ihnen zwei Kinder, deren Leichen er in eine Latrine warf.
Alle Anklagen werden bestätigt. Eine Frau erhebt sich – sie ist, da aus Gishamvu und am Leben, aller Wahrscheinlichkeit nach Hutu – und erzählt, wie sie Damascène N. vor der Kirche gesehen hat. Sie könne sich noch genau erinnern, wie er eine Frau erschossen habe, denn die Kugel sei haarscharf an ihrem eigenen Kopf vorbeigeflogen. Wieder eine andere Zeugin, auch sie Hutu, berichtet, dass das junge Mädchen, das Anasthase N. umgebracht habe, von diesem vor dessen Tod so geschlagen worden sei, dass es vier Zähne verloren habe. Anasthase N. sei in einer Gruppe gewesen, die Jagd auf Tutsi gemacht habe. Das bekräftigt auch eine andere Zeugin, die ihn mehrfach bei Mordaktionen gesehen haben will. Zum Beweis zeigt sie ihr stark vernarbtes rechtes Knie. »Hier hat er mich mit einer Machete verletzt. Außerdem hat er mir noch mein Geld gestohlen.« Dann melden sich noch Zeugen, die beobachtet haben, wie der dritte Angeklagte, Emmanuel B., mit den Kindern verschwunden sei. Auch er sei nicht allein gewesen. Zwei andere Männer, Jean-Pierre M. und Claude K., hätten ihn begleitet, und sie, die Zeugen, wüssten auch, dass die drei zusammen noch mehr Morde begangen hätten, an Kindern und an Erwachsenen.
Der Sekretär notiert die Namen der eben Beschuldigten, um sie später mit den Listen Inhaftierter abgleichen zu können. Die Frau in Alltagskleidung sitzt immer noch neben den drei Angeklagten, als der Gerichts-Vorsitzende sich ihr zuwendet, ihren Namen – Agnès A. – nennt und sagt, dass sie an der Ermordung von fünf Tutsi beteiligt gewesen sein soll. Er verliest die Namen der Ermordeten – sie scheinen in Gishamvu bekannt gewesen zu sein – und fragt, wer zu einem der Fälle etwas sagen könne. Das können sehr viele. Etliche Zeugen melden sich und erzählen, was sie von den Morden wissen. Niemand jedoch beschuldigt Agnès A. Andere Namen fallen und werden wieder von dem Gerichtssekretär notiert, der von Agnès A. ist nicht darunter. »Ich bin unschuldig«, sagt sie. »Ich bin nicht mal in der Lage, rohes Fleisch zu kaufen und zuzubereiten, wie soll ich dann einen Menschen getötet haben. Was mir vorgeworfen wird, ist falsch. Ich kann schon deshalb nichts gemacht haben, weil mein rechter Arm während des Völkermords gebrochen war.«
Vereinzelt ist zustimmendes Murmeln zu hören, das aber folgenlos bleibt. Weder wird Agnès A. freigelassen, noch ist von den Richtern ein Hinweis auf einen in dieser Sache zu treffenden Entschluss zu hören. Über vier Stunden Verhandlung in der nachmittäglichen Hitze fordern ihren Preis. Einige Richter haben erkennbar Mühe, wach zu bleiben oder konzentriert zu wirken. Überhaupt ist die Atmosphäre ganz anders, als man angesichts der zur Sprache gebrachten Tatvorwürfe vermuten sollte. Schon vor Beginn der Verhandlung findet ein reger Austausch zwischen den Angeklagten und Männern und Frauen aus der Dorfbevölkerung statt. Auch während der Verhandlung gibt es Zurufe und Gelächter, und was aus den Gesichtern der vielen spricht, die schweigend zusehen, kann nur gemutmaßt werden. Sie sitzen dort und lassen keine Gefühlsregung erkennen. Es ist, als ob sich vor ihren Augen ein Spektakel abspielt, das ein fernes Ereignis betrifft und in dem nur der Zufall darüber entscheidet, wer in anderer Kleidung auf der anderen Seite sitzt. So gesehen passt es zum Gesamteindruck, dass plötzlich ein heftiger Regen einsetzt und alle, ohne Instruktionen des Gacaca-Vorsitzenden abzuwarten, nach Hause eilen.
Fragte man Zoulfaty M. nach den Gründen für diese eigenartige Atmosphäre in Gishamvu, die auch bei den nächsten wöchentlichen Gacaca-Verhandlungen festzustellen war, antwortete sie ohne zu zögern, dass in Gishamvu wohl Täter, Mitläufer und Gaffer über sich selbst zu Gericht gesessen hätten. Überlebende des Völkermords dürften nicht dabei gewesen sein, denn dann wären die Verhandlungen anders verlaufen. Zoulfaty M. ist Tutsi, knapp über 30 Jahre alt und Gacaca-Richterin in der Gemeinde Huye in der Nähe von Butare. Den Völkermord hat sie in Kigali überlebt, in einem Kellerraum, zusammen mit ihrem Mann, einem Hutu, der der Opposition zugerechnet wurde und darum in Lebensgefahr schwebte, und drei Geschwistern. Der Kellerraum gehörte einer befreundeten Hutu-Familie, die während der fast zwei Monate, die die fünf Personen in dem engen Versteck ausharren mussten, für sie sorgte. Mehrfach seien sie nur knapp der Entdeckung und damit dem sicheren Tod entronnen. Aber sie hätten es geschafft, im Gegensatz zu den Eltern und vielen Verwandten, die getötet worden seien.
Zoulfaty M. weint häufig, als sie mir von der schwierigen Zeit des Überlebens erzählt und von den Toten, die sie auf dem Weg zurück in ihr Heimatdorf gesehen hat. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gacaca funktioniert«, sagt sie beinahe trotzig, und: »Die Wunden sind viel zu tief, die Erinnerung noch viel zu frisch. Der Hass der Häftlinge in den Gefängnissen ist mit den Händen zu greifen, der Schmerz der Überlebenden endlos. Wie soll da eine Versöhnung zustande kommen? Ich weiß, dass viele Opfer die Strafen, die Gacaca-Gerichte verhängen können, als zu gering empfinden. Sie fühlen sich noch einmal erniedrigt, zumal es ihnen auch wirtschaftlich schlecht geht. Sie haben Hunger und leiden und es gibt keine Aussicht auf Besserung.«79
Mit dieser Meinung steht Zoulfaty M. nicht allein. Viele Überlebende denken wie sie, scheuen sich aber, ihre Meinung zu sagen, erst recht gegenüber einem Fremden. Niemand möchte sich gegen das große staatlich betriebene Versöhnungsprojekt stellen, für das Gacaca der offizielle Schlüssel ist. Eine Ausnahme ist hier nur die Opferorganisation Ibuka, die regelmäßig eine stärkere Berücksichtigung der Belange Überlebender fordert. Ihnen müsse die Hauptsorge der Politik gelten, nicht den vielen Tätern und deren eventueller Geständnisbereitschaft.
Durchdringen konnte sie mit dieser Forderung bislang offensichtlich nicht, ebenso wenig wie mit ihrem Verlangen, die Verbrechen des Jahres 1994 und davor allein auf die eigentlichen Völkermordverbrechen im Sinne der Völkermordkonvention zu beschränken und daher in den Gesetzestexten zur Einsetzung der Sonderkammern und Reaktivierung der Gacaca-Justiz nur von itsembabwoko zu sprechen (ethnische Säuberung, Völkermord) und nicht auch von itsembatsemba (Massaker). Itsembabwoko sollte sich ausschließlich auf den Völkermord, das heißt auf die an den Tutsi begangenen Verbrechen beziehen, während itsembatsemba auch politisch motivierte Massaker, das heißt die Massenmorde an den der Opposition zugerechneten Hutu umfasste.80 Gewählt wurde schließlich der Begriff itsembabwoko n’itsembatsemba, also eine Verbindung von beiden Verbrechensmodalitäten, um das gesamte verbrecherische Geschehen mit seinen unterschiedlichen Opfergruppen abbilden zu können.
»Diese Entscheidung war genau richtig«, versichert mir Odette Nyiramilimo in einem Gespräch wenige Tage später.81 Einer größeren Öffentlichkeit war sie durch das Gourevitch-Buch über den Völkermord in Ruanda bekannt geworden, in dem sie dem Autor über die Umstände der ihr und ihrer Familie zugedachten Vernichtung berichtet hatte. Jetzt ist sie, eine ausgebildete Ärztin, Staatsministerin für soziale Angelegenheiten und sitzt mir in ihrem Büro gegenüber. »Ein Land kann nicht auf offenen Wunden aufgebaut werden«, fährt sie fort, »das ganze Unrecht muss zur Sprache kommen. Und natürlich muss dabei ein Unterschied gemacht werden zwischen den an Tutsi und Hutu begangenen Verbrechen. Tutsi wurden Opfer eines Völkermords, niemand sollte überleben. Einen Völkermord an den Hutu hat es jedoch nicht gegeben. Getötet wurden Hutu, die als Oppositionelle galten, nicht ganze Familien. Das darf nicht vergessen werden.«
Sie greift zu dem Buch von Alison Des Forges über den Völkermord, das im Regal steht, legt es zwischen uns auf den Tisch und weist anklagend darauf: »Hier, vieles von dem, was darin steht, ist richtig. Aber Alison Des Forges macht alles kaputt, wenn sie am Ende der Befreiungsarmee FPR82 vorwirft, systematisch Verbrechen an Hutu begangen