Luther – Steckbrief eines Überzeugungstäters. Christoph Türcke
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Luther – Steckbrief eines Überzeugungstäters - Christoph Türcke страница 4
Hus war ein bewundernswert standhafter, aber kein besonders origineller Geist. Und Luther? Offenbar längst nicht so originell, wie die Reformationslegende suggeriert. Gut ein Jahrhundert vor seinem »Durchbruch« finden sich die meisten seiner Einwände gegen die Papstkirche bei Wyclif und Hus bereits in gleicher Grundsätzlichkeit und ähnlicher Schärfe. Was kommt bei Luther noch hinzu? Das Priestertum aller Gläubigen? Nun, der Sache nach steckt das bereits im Laienkelch. Daß alle Gläubigen am ganzen Abendmahlssakrament teilhaben sollen, besagt doch nichts anderes, als daß vor Gott jeglicher Statusunterschied zwischen Laien und Priestern entfällt. Und war dieser Gedanke nicht auch schon bei Wyclif präsent, als er Päpste, Kardinäle und den gesamten Mönchsstand für überflüssig und ohne Basis in der Bibel erklärte? Luthers Position ragt wenig darüber hinaus. Zudem ist sie weit weniger radikal als das, was zwei Jahrhunderte zuvor bereits ein großer Mystiker formuliert hat: Meister Eckehart. Theologische Mystik hat stets eine antiklerikale Spitze. Sie unterstellt, daß wahrhaft Gläubige auf direktem Wege mit Gott eins werden können und dazu nicht der Vermittlung von Priestern bedürfen. Und Eckehart, der exponierteste Dominikanerprediger seiner Zeit, der nach Stationen in Erfurt und Straßburg schließlich die Leitung des Studium generale seines Ordens in Köln übernommen hatte, hatte den Gedanken der Einswerdung so wörtlich genommen wie niemand zuvor: Wenn Menschen ein Bild anfertigen, hat es mit dem Abgebildeten günstigstenfalls große Ähnlichkeit. Als Gott den Menschen »sich zum Bilde« schuf, machte er ihn sich in einem übermenschlichen Maße gleich. Er hauchte ihm seinen Odem, seinen Geist ein. »So gleich ihm selber hat er des Menschen Seele gemacht, daß im Himmelreich noch auf Erden unter allen herrlichen Kreaturen, die Gott so wundervoll geschaffen hat, keine ist, die ihm so gleicht wie des Menschen Seele. Hierum will Gott diesen Tempel leer haben, auf daß denn auch nichts weiter darin sei als er allein.« Deshalb habe Jesus die Händler und Geldwechsler aus dem Jerusalemer Tempel vertrieben: um ein Gleichnis für die Reinigung des Seelentempels zu geben. Jeglicher Händlergeist soll daraus verschwinden. »Seht, alle die sind Kaufleute, die sich hüten vor groben Sünden und wären gern gute Leute und tun ihre guten Werke Gott zu Ehren, wie Fasten, Wachen, Beten und was es dergleichen gibt, allerhand gute Werke, und tun sie doch darum, daß ihnen unser Herr etwas dafür gebe oder daß ihnen Gott etwas dafür tue, was ihnen lieb wäre«. Sie »wollen auf solche Weise markten mit unserm Herrn. Bei solchem Handel sind sie betrogen.« »Willst du der Kaufmannschaft gänzlich ledig sein, so daß dich Gott in diesem Tempel belasse, so sollst du alles, was du in allen deinen Werken vermagst, rein nur Gott zum Lobe tun«. »Du sollst gar nichts dafür begehren. Wenn du so wirkst, dann sind deine Werke geistig und göttlich«.9
Ist das nicht nahezu wörtlich Luthers Grundgedanke zu den guten Werken? Er findet sich bereits zwei Jahrhunderte zuvor bei Eckehart. Allerdings mit einem Überschuß: Die Seele, in der nur noch Gott wohnt, ist nicht nur über jeden Unterschied von Priester und Laie hinaus, sondern: »Gottes Sein ist mein Leben. Ist denn mein Leben Gottes Sein, so muß Gottes Sein mein sein und Gottes Wesenheit meine Wesenheit, nicht weniger und nicht mehr.«10 War das nicht eine Ungeheuerlichkeit, nämlich menschliche Selbstvergottung – zudem ausgebreitet in deutschen Predigten vor den Ohren des Volks? Eckehart verstand darunter gerade das Gegenteil: maximale menschliche Selbstentäußerung als Antwort darauf, daß Gott sich bei seiner Menschwerdung bis zur Neige seiner selbst entäußert habe. Doch der Erzbischof von Köln war empört und eröffnete ein Inquisitionsverfahren gegen Eckehart. Der wehrte sich und trug das Verfahren selbst zur höchsten Instanz: zur Kurie nach Avignon. Er reiste eigens dorthin, um vor einer päpstlichen Kommission seine Version der mystischen Vereinigung von Gott und Mensch zu verteidigen. Doch alsbald verwarf eine Bulle Johannes’ XXII. Eckeharts Auffassung und vermerkte zudem, er habe alle beanstandeten Sätze seiner Lehre widerrufen. Bald darauf ist er unter ungeklärten Umständen gestorben, weshalb der Verdacht, daß die Methoden der Inquisition seinem Widerruf und seinem mysteriösen Ende nachgeholfen haben, nie erloschen ist.
Luther hat Eckehart nicht gelesen, nur dessen Schüler Johannes Tauler. Auch der hat deutsche Predigten verfaßt, aber seine Mystik ist längst nicht so radikal wie die seines Lehrers. Einswerden mit Gott heißt für ihn vor allem Willenseinheit. »Du sollst deinen wandelbaren Willen einsenken in den göttlichen Willen, der unbeweglich ist, damit deiner Schwachheit aufgeholfen werde.«11 Darin, »daß nämlich der Mensch seinen eigenen Willen haben will auch an allen göttlichen Dingen«, besteht seine »Gefangenschaft«, der er nur entkommt, wenn er sagt: »Nein, Herr, nicht nach meiner Gnade oder Gabe oder Willen gehe es, sondern, Herr, wie du willst, Herr, so nehm ich es, oder so will ich es«. »Unendlich viel nützlicher als alles, was der Mensch nach seinem eigenen Willen haben kann, es sei Gott oder Kreatur, ist es ihm, es willig und demütig zu entbehren« »und dem eigenen Willen in Gelassenheit zu entsagen«. Erst solches Loslassen des Eigenwillens öffnet das Seeleninnere für den heiligen Geist, »und alle Gnade und alle Seligkeit wird davon eingegossen, und der Mensch wird ein göttlicher Mensch«. »Göttlich« wird hier ein Mensch allerdings nicht mehr, wie bei Eckehart, dank der Wesensgleichheit seiner Seele mit Gott, sondern nur noch durch Auflösung seines Eigenwillens in den Willen Gottes, aus dem er in sündhafter Abspaltung hervorgegangen ist. Einswerdung mit Gott ist nur noch als einseitiges Aufgehen in Gott, als Unterwerfungsakt gedacht, nicht mehr als wechselseitiges Aufgehen von Gott und Mensch ineinander. Nur für solch einseitige Mystik konnte Luther sich erwärmen – und nie bis zum Siedepunkt. Eins werden mit Gott: wie sollte das gehen, selbst bei vollkommener Hingabe? Man blieb doch als Sünder tief unter ihm. Die enorme Aufwertung des menschlichen Individuums, die die deutsche Mystik dadurch vollzog, daß sie die Gottebenbildlichkeit des Menschen12 in bestimmter Hinsicht als Gottgleichheit interpretierte, war Luther entschieden zu kühn.
Bleibt am Ende als Luthers Alleinstellungsmerkmal lediglich seine Lehre von der Rechtfertigung des Sünders durch Gottes Gnade übrig? Nur, mit Verlaub, was ist daran genuiner Luther? Das Entscheidende steht doch schon beim Apostel Paulus. Die Menschen »sind allzumal Sünder […] und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist«.13 Hatte der Katholizismus das vergessen? Keineswegs. Allen Kirchenvätern und Scholastikern ist der Gnadengedanke unverzichtbar. Augustin hat ihm gar eine ganze Serie von Schriften gewidmet und ein scharfes Bewußtsein für das Vertrackte daran entwickelt. Wenn Gnade einzig durch Gottes ebenso vorausschauenden wie unerforschlichen Ratschluß zuteil wird, kann niemand sie sich selbst beschaffen; andrerseits kann niemand an ihrem Empfang ganz unbeteiligt sein. Und diese Beteiligung, diese Empfänglichkeit ist das Problem. In welchem Maße ist sie passiv, in welchem aktiv? Wie weit reicht sie? In welchem Grad gewinnt sie den Status einer Mitwirkung? Diese Fragen trieben schon Paulus um. Er konnte den Gnadenbegriff gar nicht verwenden, ohne ihn sogleich gegen das Mißverständnis zu schützen, der mit Gnade Beschenkte müsse sich nicht mehr bemühen. Mit der Gnade steht, ob man will oder nicht, zugleich ihr Verhältnis zur menschlichen Natur, zum freien Willen, zu den Tugenden und guten Werken zur Debatte, und die Scholastiker haben dies Verhältnis nach allen Regeln der Kunst auszubalancieren versucht. Stets ist Paulus einer ihrer Kronzeugen gewesen.
Es kann keine Rede davon sein, daß die biblischen Schriften im Mittelalter verschüttet waren und erst Luther sie wieder ausgegraben hat. Als er seine ersten Vorlesungen über die Psalmen und den Galaterbrief hielt, bewegte er sich durchaus im Rahmen des theologischen Curriculums. Er entdeckte nicht etwa den Gnadenbegriff wieder, sondern gab ihm lediglich einen eigenen Akzent und neuen Nachdruck. Deshalb fiel es den damaligen päpstlichen