Die Niederlage der politischen Vernunft. Egon Flaig
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Drittens färbt sich das politische Vokabular religiös. Das mag anfangs als ein reizender Rückgriff auf entschwindendes Bildungsgut erscheinen. Doch die rhetorische Wirkung von religiösen Metaphern belebt Sinngehalte, die sich in einem neoreligiösen Gedankenagglomerat kondensieren. Wenn diese Welle anhält, dann wird der geistige Haushalt der nächsten europäischen Generation untauglich für wissenschaftliche und politische Rationalität.
Viertens wächst in der politischen Klasse die Bereitschaft, das ›Richtige‹ bedenkenlos durchzudrücken – gegen die Tatsachen und gegen den Volkswillen. Vor allem unter den Brüsseler Eurokraten macht sich eine unverhohlene Verachtung der Volkssouveränität bemerkbar. Aus dieser Bedenkenlosigkeit speist sich der permanente Gebrauch von Pflichtlügen und die Transformation des Öffentlichen in eine Sphäre legitimer Verlogenheit.
Fünftens entstehen unerwartete Allianzen. Das multinationale Kapital befleißigt sich des Vokabulars der ›Offenheit‹ für Menschenströme wie für Kapitalflüsse. Und NGOs, Kirchen und Großkapital kooperieren mit Multikulturalismus und Eurokratie – unter einem Banner, das prangt mit Fragmenten der Bergpredigt.
Diese fünf Aspekte werden im neunten Kapitel noch ausführlich beleuchtet werden. Meine Überlegungen begeben sich im folgenden auf einen scheinbaren Umweg, auf dem zwei Formen des Antiuniversalismus ihrer Erörterung harren.
Entwertete Wahrheit –
der Preis des Antihellenismus
Alle Aufklärung steht und fällt mit der Bemühung um wissenschaftliche Wahrheit. Sie ist die regulative Idee aller Erkenntnis. Ohne sie verlieren die Geltungsansprüche des vernünftigen Argumentierens ihre Grundlage. Nun stehen die Kulturwissenschaften seit über vier Jahrzehnten unter dem Bann jenes Diktums von Nietzsche: »Es gibt keine Tatsachen, es gibt nur Interpretationen.« Alle wesentlichen Thesen des radikalen Konstruktivismus sind letztlich von diesem Satz bedingt. Wenn die Aussagen über objektive Sachverhalte nur Interpretationen wären – ohne jedweden sachlichen Bezug zur ausgesagten Wirklichkeit –, dann wäre Wissenschaft überhaupt unmöglich.
Die Wahrheit nicht als regulative Idee gelten zu lassen, ist streng genommen keine erkenntnistheoretische Position, sondern eine Pose der Skepsis. Am pointiertesten hat der Sophist Gorgias um 430 v. Chr. die skeptischen Axiome formuliert: Erstens, es existiert nichts; zweitens, falls doch etwas existiert, dann können wir es nicht erkennen; drittens, falls es doch erkennbar wäre, so könnten wir diese Erkenntnis anderen nicht mitteilen.12 Zwar geht die Dekonstruktion von anderen Voraussetzungen aus als die alte Skepsis,13 doch es ergeben sich aus ihr Konsequenzen, die großenteils kongruent sind mit skeptischen Haltungen. Wer sich in dieser Pose aufstellt, tut das nur schreibend. Denker, die in ihren Büchern behaupten, es gäbe keine objektive – vom menschlichen Bewußtsein unabhängige – Realität, werden sofort zu empirischen Realisten, sobald sie sich eine Flugkarte zur nächsten Vortragsreise kaufen, obwohl doch Flugzeuge, Flughäfen und Flugpreise nur Vorstellungen sind, erzeugt durch referenzloses Interpretieren, nurmehr linguistisch existierend.
Mannigfaltige geistige Strömungen mündeten in jene Situation, die es zuließ, am Ende des 20. Jahrhunderts die Begriffe ›Wahrheit‹ und ›Objektivität‹ in den Kulturwissenschaften zu diskreditieren, während gleichzeitig das Genom entschlüsselt wurde, die Herstellung künstlicher Intelligenz sich rasant beschleunigte, die Theorie der schwarzen Löcher sich bestätigte, die dunkle Materie sich zum Forschen anbot und der Nachweis von Gravitationswellen nur noch eine Frage von Jahren war. Daß die Kulturwissenschaften auf ein vorkritisches Stadium zurückdrifteten, rührt aus dem massiven Wandel in den akademischen Karrieren und aus dem weitgehenden Verlust an basaler Bildung, insbesondere was die kantische Philosophie angeht. »Die Grundfrage der ›Kritik der reinen Vernunft‹ läßt sich durch den Begriff der Objektivität bezeichnen«, schreibt Ernst Cassirer.14 Kant hat in seiner ersten Kritik die gesamte ›Transzendentale Analytik‹ dafür gebraucht, um das Objektivitätsproblem auseinanderzulegen und den Skeptizismus Humes zu widerlegen: Zum ersten gibt es eine äußere Wirklichkeit, eine objektive Realität unabhängig von unserem Bewußtsein. Die transzendentalen Kategorien, also die subjektiven Bedingungen des Erkennens, korrespondieren mit der Beschaffenheit der objektiven Wirklichkeit. Wissenschaftliche Erkenntnis ist objektiv, allgemein und notwendig. Zum zweiten können logisch korrekte Erkenntnisse ihren Gegenstand verfehlen; sie sind folglich empirisch korrigierbar. Fortschritt in der empirischen Erkenntnis ist daher möglich und erwartbar.15 Drittens nennt Kant seine eigene Philosophie einen ›empirischen Realismus‹. Daher hält er an der Korrespondenztheorie fest: Erkenntnis muß mit ihrem Gegenstand übereinstimmen. Viertens ist die äußere Wirklichkeit vollständig erkennbar, insofern sie als Erscheinung in den Bereich möglicher Erfahrung fällt. Daher ist Fortschritt im Erkennen möglich.16
Kant schlug sich auf die Seite der ›Objektivisten‹, weil er den menschlichen Fortschritt nicht zuletzt an die Wissenschaft gebunden sah und folglich die Möglichkeit objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis aufzeigen musste.17 Das fundamentalste Werk des modernen Denkens richtet sich just gegen jene skeptischen Annahmen, welche der radikale Konstruktivismus wiederholt, insofern er die Möglichkeit von wissenschaftlicher Erkenntnis ebenso bestreitet wie das Vorhandensein einer ›objektiven Realität‹. Es ist notwendig, daran zu erinnern, weil radikale Konstruktivisten häufig Kants Namen im Munde führen.
Eine besondere Variante der Negierung von verbindlicher Wahrheit hat Michel Foucault geboten. Solange er noch seine Diskurstheorie pflegte, ging er davon aus, daß die Sinnsysteme unterschiedlichster Epochen sich dermaßen voneinander unterschieden, daß ihre Erkenntnisweisen untereinander inkommensurabel waren. Auf dieselbe Weise waren die Wissenssysteme der einzelnen Kulturen einander fremd und ohne Möglichkeit von Vermittlung. Der Anspruch der Philosophie, zu universell gültiger Erkenntnis zu kommen, sei demgemäß ein irrtümlicher. Dagegen obliege es der Postmoderne, unentwegt neue Wahrheiten zu erschließen, die keine Verbindlichkeit beanspruchen, zumal das Erkenntnissubjekt selbst jeglicher Pflicht enthoben ist, sich irgendeine Rechenschaft abzugeben: »Alles was ich in der Vergangenheit behauptet habe, ist völlig bedeutungslos.«18
Ob eine Verständigung zwischen den verschiedenen kulturellen ›Wahrheitsregimen‹ möglich sei, hat Foucault nirgendwo argumentativ erörtert. Dieses Versäumnis behob François Lyotard. Für ihn war evident, daß die Verschiedenartigkeit der Kulturen unüberbrückbar war, weil die »Vielzahl heterogener Diskursfamilien« untereinander unübersetzbar und inkommensurabel seien, denn es fehle ein ›Metadiskurs‹.19 An Hand der Thesen des Holocaust-Leugners Faurisson kam er zum Schluß, daß es nicht möglich sei, Katastrophen oder Ereignisse überhaupt in sprachlicher oder sonstwelcher zeichenhaften Form darzustellen.20 Eine radikale Diskontinuität zwischen Geschehen und Sinn behauptend, stellte er sich auf den Boden des dritten Axioms von Gorgias und kokettierte mit dem zweiten. In seiner Abhandlung »Le différend« begründete er 1983 seine Thesen auf sprachphilosophische Weise: Zum einen, daß die menschliche Sprache nicht geeignet sei, angemessene Urteile zu formulieren; denn Argumente seien nicht deswegen stark, weil sie logisch richtig oder unrichtig wären, sondern weil sie rhetorisch überzeugten. Zum anderen daß es keine übergreifende Regel zur Verwendung von Sätzen gebe, folglich auch kein logisches Verketten der Sätze; statt dessen blieben nur Sprachspiele entlang von diskursiven Konventionen.21 Solche Sprachspiele lassen ein regelrechtes Beweisverfahren nicht zu; ein Zwang zur Begründung müßte die Vielzahl möglicher Ideen und ihre ständige Innovation unterdrücken. Sprachspiele sind letztlich Teil einer ›allgemeinen Agonistik‹, also reine Machtspiele. Karl-Otto Apel und Manfred Frank kommentierten, daß damit die Vernunft verabschiedet werde.22 In der Tat. Lyotard scheut nicht davor zurück, die politischen Konsequenzen zu ziehen; die Menschenrechte, so hören wir von ihm, gehören zu den »verheerenden Wirkungen des Imperialismus (…) auf die einzelnen Kulturen«.23 Wir werden im fünften Kapitel sehen, aus welchem fragwürdigen Arsenal Lyotard diese