Die Niederlage der politischen Vernunft. Egon Flaig
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Читать онлайн книгу Die Niederlage der politischen Vernunft - Egon Flaig страница 8
Wo die vier Prämissen fehlen, dort bleibt die Urteilskraft beschränkt. In vielen Kulturen kann sie nicht entstehen, weil dort die spezifische Öffentlichkeit fehlt. Wo das Politische nicht als autonome soziale Sphäre besteht, dort können Menschen dieses Vermögen nicht entwickeln. Und Diktaturen beschädigen es oft umfassend. Fehlt es, dann werden die Urteile verkürzt, stumpf und letztlich ›grundlos‹. Das läßt sich ablesen an der epidemischen Ausbreitung des Selbstverständlichen. Indes, nichts ist selbstverständlich. Alles, was existiert, ist geronnenes Resultat, ist entstanden. Das Selbstverständliche ist etwas ›Unmittelbares‹, etwas fraglos Gegebenes, dessen Genese einem nicht in den Sinn kommt. Wird diese Genese vergessen, verdinglicht sich ihr geronnenes Resultat zu etwas ›Unmittelbarem‹. Alle Selbstverständlichkeit ergibt sich aus solcher Verdinglichung. Die politische Vernunft wird sofort paralysiert, wenn das Wissen um die Geschichtlichkeit nicht (mehr) vorhanden ist.
Einen Paradefall dafür bietet die Modernisierungstheorie von Jürgen Habermas. Er hat vor der Wucht kultureller Divergenz immer die Augen verschlossen. Symptomatisch ist seine Annahme, der Fundamentalismus werde von alleine verschwinden, weil er eine Rebellion gegen die Modernisierung sei:
»In der Moderne fallen rigide Lebensformen der Entropie anheim. Fundamentalistische Bewegungen lassen sich als den ironischen Versuch begreifen, der eigenen Lebenswelt mit restaurativen Mitteln Ultrastabilität zu verleihen. Die Ironie besteht im Selbstmißverständnis eines Traditionalismus, der ja erst aus dem Sog gesellschaftlicher Modernisierung hervorgeht und eine zerfallene Substantialität nachahmt. Als Reaktion auf den überwältigenden Modernisierungsschub stellt er selber eine durch und durch moderne Erneuerungsbewegung dar.«20
Unter der inklusiven Formel der ›Modernisierung‹ soll demnach sich eine Konvergenz der Kulturen vollziehen, und die ›multiplen Modernitäten‹ sollen letztlich in eine Weltgesellschaft einmünden – ganz so, als seien liberale Grundwerte weltweit bereits hegemonial – vielleicht noch nicht politisch, aber jedenfalls moralisch. Gewiß, die Globalisierung setzt alle Kulturen unter den Druck von ›Modernisierungen‹. Doch die Eliten der verschiedenen Kulturkreise reagieren darauf ganz unterschiedlich, denn es sind viele Formen von Modernisierung möglich. Diejenige des aufklärerischen Universalismus ist nur eine unter mehreren. Auch der Nationalsozialismus war eine solche Modernisierung. Samuel Huntington hat eine scharfe Divergenz zwischen mehreren Kulturen prognostiziert. Und die ist – was den islamischen Raum angeht – eingetreten. Gerade jene Historiker, die ein besonderes Augenmerk auf ›globale Trends‹ richten, haben festgestellt, daß manche kulturelle Räume wichtige rechtliche Innovationen nicht mitvollzogen. Jürgen Osterhammel hat darum den islamischen Kulturkreis aus dem großen Trend zur Liberalisierung ausgenommen, da dort der Widerstand gegen die Abschaffung der Sklaverei vehement geblieben ist.21
Daß Gesellschaften auf den kulturellen Wandel mit Versuchen reagieren, die eigenen Traditionen übermäßig zu stabilisieren, ist ein Dauerphänomen der Geschichte. Schon immer gab es die fundamentalistische Rückkehr zu den reinen Ursprüngen; sogar Innovationen und Reformationen präsentierten sich meist als Kehre hin zum Alten. Es ist daher falsch, im Fundamentalismus ein modernes Phänomen zu sehen; und es ist makaber, ihn auf ein ›Selbstmißverständnis‹ zurückzuführen. Die 3 000 Toten des 11. September 2001 ebenso wie die 130 Toten vom September 2015 oder die Tausende von Abgeschlachteten in Nigeria sind keinem ›Selbstmißverständnis‹ von Muslimen zum Opfer gefallen. Der Begriff beansprucht, die Akteure besser zu verstehen, als sie selber es tun; und er behauptet, daß der Fundamentalismus sofort endet, sobald die Akteure beginnen, sich selber zu verstehen. Anspruch wie Behauptung sind grotesk, aber logisch, nämlich rücklaufende Stauwellen jener programmatischen Geschichtslosigkeit der Frankfurter Schule überhaupt und von Habermas im besonderen. In seinem Geiste sind die normativen Grundlagen der aufgeklärten Zivilgesellschaft dermaßen überzeugend, daß die kulturelle Vielfalt die Menschen nicht davon abhalten wird, sich immer weiter von aufklärerischen Werten durchdringen zu lassen. Der Durchbruch zur Weltgesellschaft ist eigentlich schon gelungen, muß sich nur noch vollends verwirklichen. Und zu dieser Verwirklichung kommt es, sobald die Fundamentalismen ihr Selbstmißverständnis aufgeben. Daß sie dazu vorläufig nicht bereit sind, schuldet sich der Weigerung ihrer Gläubigen, endlich sich selber zu verstehen. Eine solche Weigerung ist, diskurstheoretisch definiert, keine kognitive Angelegenheit, sondern ein moralischer Defekt. Wir haben es nicht mit Feinden zu tun, sondern letztlich mit Uneinsichtigen. Kriege sind folglich obsolet, vielmehr sind Polizeiaktionen – eventuell in kriegerischem Umfang – angemessen.
Theorien scheitern an der Wirklichkeit. Als der junge Habermas die Kritische Theorie umgründete und ihr Fundament von der Geschichte zur Anthropologie verlagerte, zog er die Konsequenz aus dem zur Gnosis konvertierten Geschichtsbegriff Adornos und Horkheimers. Dafür begann er die Zeithorizonte zu vernachlässigen und die kulturellen Bedingungen zu depotenzieren; auch deswegen verfiel die Kritische Theorie periodisch dem Moralisieren. Die Frankfurter Schule insgesamt wird nun hinterrücks angefallen von dem, was sie ausblenden wollte, von der enormen Geschichtsmächtigkeit jener Kulturen, die sich keineswegs dem Gebot der Aufklärung fügen. Wer sich über den Feind irrt, der irrt sich über sich selber. Die eigene Selbstverkennung entspricht genau jener, die Habermas den fundamentalistischen Reaktionen vorwirft. Und sie enthüllt einen Mangel an jener Urteilskraft, auf welche die Politische Vernunft so dringend angewiesen ist.
Wann immer das Denken der Versuchung erliegt, Wesentliches für selbstverständlich zu nehmen, entkräftet es die eigene Urteilskraft. Auch der glänzendste Stil hilft nicht darüber hinweg, daß das Urteilen naiv und kurzsichtig ausfällt. Der so gepflegte geistige Habitus ist – wie noch zu sehen sein wird – ein Niederschlag virulenter amnestischer Barbarei.22 Die Selbstverständlichkeit ist der schlimmste Feind des Nachdenkens. Dieses beginnt, wie Platon sagt, mit dem Staunen.
Ist die Weltrepublik das Ende der Geschichte?
Das Rechte, das Gute führt ewig Streit, Nie wird der Feind ihm erliegen.
Friedrich Schiller
Die obigen vier historischen Existentiale sind keine empirischen Kategorien; sie sind nicht hintergehbar. Sie markieren eine Geschichtlichkeit, die notwendigerweise an der menschlichen Existenz haftet. Damit stellen sich die Fragen nach dem ›Ende der Geschichte‹ auf neue Weise. Soll das Ziel der Geschichte darin bestehen, eine Weltrepublik herzustellen, dann gerät man in den Ruch, vom Ende der Geschichte zu sprechen. Das Reizwort ›Weltrepublik‹ weckt Animositäten: Geht in einem solchen ›Weltstaat‹ nicht alle kulturelle und historische Vielfalt verloren? Verdämmert die Menschheit dann nicht in einem öden Posthistoire? Müßte sie ohne Diversität, ohne Spannung und ohne Kriege nicht im Immergleichen verblöden?
Diese Befürchtung ist sehr alt. Hegel erhärtete sie in seiner Kunstphilosophie und auch in der geschichtsphilosophischen Versicherung, daß der ›Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit‹ in endgültige Lebensformen einmünden müßte. Vielfach verstand man seine Geschichtsphilosophie so, daß sobald das Prinzip der Freiheit sich in die historische Realität eingeprägt habe, nichts Neues mehr kommen könne. Der französische Mathematiker Antoine Augustin Cournot verfocht 1861 die These, die Kulturentwicklung sei in ihr letztes Stadium eingetreten: Nur noch Demographie und Ökonomie seien als maßgebliche Triebkräfte übrig geblieben. Für diese Phase totaler Administrierung erfand er den Terminus ›Posthistoire‹. Der exilierte russische Philosoph Alexandre Kojève imprägnierte in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine ganze Generation französischer