Nach Verdun. Jan Eik
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«Galgenberg!», ermahnte ihn Dr. Kniehase. «Nicht in aller Öffentlichkeit!»
«Na, wenn ick erst zu Hause bin, nützt et doch nüscht mehr.» Erst beim dritten Versuch gelang es allen dreien mitzukommen. Galgenberg stand zwar nur auf dem Trittbrett, und Kappes Nase wurde beim Drängeln vom Kamerastativ so eingedrückt, dass sie blutete, aber es ging. Lange zu fahren hatten sie ja nicht.
Röddelins Kolonialwarenladen war unschwer zu finden, die gaffende Menge zeigte ihnen, wo sie hinmussten. Die Kollegen von der Schutzpolizei waren bemüht, den Tatort weiträumig abzusperren. Es roch nach Gas. Offensichtlich waren Rohre zerstört worden, und man fürchtete eine Explosion. Männer von der Gasanstalt wuselten herum. Die Feuerwehr hatte Akkumulatoren herbeigeschafft und Scheinwerfer angeschlossen, so dass für eine ausreichende Beleuchtung gesorgt war. Elektrisches Licht hatten im Kiez um den Boxhagener Platz herum nur wenige.
Ein Schupo versperrte ihnen den Weg. «Für Leute vom Fülm is hier keen Platz!»
«Für Leute aus ’m Mustopp ooch nich», sagte Galgenberg und schob den Mann beiseite. «Wir sind vonne Mordkommission.»
«Entschuldijung, et war ja nich so jemeint.»
Kappe wäre es lieber gewesen, sie hätten hier tatsächlich nur einen Film zu drehen gehabt und der Tote wäre nur vom Maskenbildner so schrecklich zugerichtet worden. In seinen bislang sechs Jahren bei der Berliner Kripo hatte er schon viele Leichen gesehen, aber niemals so dicht vor einem Zusammenbruch gestanden wie heute. Der Kolonialwarenhändler war von der Handgranate regelrecht zerfetzt worden. Sie musste direkt vor seinen Füßen explodiert sein. Ein Bein war ihm abgerissen worden. Gesicht und Brust waren nur noch als rohe Fleischklumpen auszumachen.
Kappe flüchtete sich hinter ein Feuerwehrauto, um sich zu erbrechen.
«Da haben wir ja Verdun mitten in Berlin», hörte er, als er in den Laden zurückkehrte, nun auch Dr. Kniehase sagen.
«Da hat eener janze Arbeit jeleistet», stellte Galgenberg fest. Das bezog sich auf den Zustand von Erich Röddelin wie die Einrichtung seines Geschäfts. Im Fußboden klaffte ein gewaltiges Loch. Einige Dielenbretter waren total zerstört worden, andere ragten bizarr in die Luft. Was auf den Regalen gestanden hatte, war durch den Druck der Explosion heruntergefegt worden. Mehlstaub lag auf allem, Marmeladengläser waren zerplatzt, und Gurkenfetzen schmückten das Ganze. Die Schaufensterscheibe war herausgeflogen.
Dr. Kniehase balancierte zwischen den Trümmern und suchte nach den Resten der Handgranate. Ihr Typ konnte vielleicht einen Hinweis auf den Täter geben. Kappe und Galgenberg standen ein wenig hilflos herum. Was blieb ihnen, als nach Augenzeugen zu suchen und zu fragen, wer was beobachtet hatte?
Sie bewegten sich auf die Menge zu, die sich hinter den Absperrungen versammelt hatte, und Galgenberg fragte, ob jemand den Täter gesehen habe.
«Nee, wir ham nur jehört, wie et jeknallt hat.»
Eine Portiersfrau aus dem Nachbarhaus platzte damit heraus, dass Erich Röddelin ein ziemlicher Schubiak gewesen sei. «Der hatte mehr Feinde als Haare uff ’m Kopp, weila die Leute beim Abwiegen imma beschissen hat. Harthertzig wara ooch, nie hatta anschreim lassen, da konnten die Leute vahungan.»
«Ja, so isset jewesen, det kann ick uff mein Eid nehm!», rief der Mann, der neben ihr stand.
«Und was ist mit Röddelins Frau?», fragte Kappe.
«Die hat ’n Nervenzusammenbruch jehabt und liegt im Krankenhaus.»
«Da wird sie auch noch morgen liegen», murmelte Kappe.
«Mir geht’s nicht gut, ich will nach Hause.»
Dr. Kniehase fühlte sich bei der «Morgenandacht» in den Räumen der Mordkommission in seinem Element, war wieder ganz der Dozent, der er jahrelang an der Artillerie- und Ingenieurschule gewesen war. In der Nacht hatte er kaum Schlaf gefunden, dennoch war ihm keine Müdigkeit anzumerken.
«Wie gesagt, die Explosion einer Handgranate in einem geschlossenen Raum ist zumeist für alle sich im Wirkungsbereich befindlichen Personen tödlich. Wir können im Falle Erich Röddelin davon ausgehen, dass der Täter die Handgranate von der Straße aus durch die offene Tür in den Laden geworfen hat, sozusagen um die Ecke, um sich dann fluchtartig zu entfernen. Genug Zeit hatte er … Wir unterscheiden grundsätzlich zwischen offensiven Granaten und defensiven Splittergranaten. Offensive Granaten haben einen vergleichsweise kleinen, unterhalb der Wurfweite liegenden Gefahrenbereich, was es dem Anwender ermöglicht, sie ohne eigene Deckung einzusetzen. Sie werden für das Eindringen in feindliche Stellungen verwandt und wirken vor allem durch die Druckwelle ihrer Sprengladung. Wir unterscheiden ferner zwischen aufschlagzündenden und zeitzündenden Werkzeugen.»
«Werkzeuge», murmelte Kappe. Es war schon pervers, Handgranaten als Werkzeuge zu bezeichnen: Werkzeuge zum Töten.
«Aufschlagzündende Handgranaten haben den Vorteil, dass der Gegner der Waffe nicht ausweichen und sie nicht zurückschleudern kann. Bei den Engländern haben wir Handgranaten gefunden, da war aufgedruckt: Pull the ring and throw …, und handschriftlich war hinzugefügt: … it to your comrade.»
«Diese Sprache möchte ich in unseren Räumen nicht hören», sagte Waldemar von Canow.
«Pardon.»
«Und Französisch auch nicht, Herr Dr. Kniehase.»
Kappe wusste nicht, ob sein Vorgesetzter das ironisch gemeint hatte, es schien ihm aber nicht so.
Dr. Kniehase jedenfalls achtete nun auf die Reinheit seiner Sprache. «Geworfen worden ist im Falle Röddelin keine Eierhandgranate, sondern eine Stielhandgranate, im Volke Kartoffelstampfer genannt, wie sie von unserer Industrie millionenfach hergestellt wird. Bei dieser Handgranate ist der Sprengkopf an einen breiten Holzstiel angeschraubt. Dieser wirkt wie ein Hebel und verstärkt die Kraft des Wurfarms, so dass größere Wurfweiten als bei der Eierhandgranate erzielt werden. Der Zeitzünder ist im Stiel untergebracht. Wir gehen von einer Verzögerung von acht bis zehn Sekunden aus. Am unteren Ende des Stiels befindet sich, normalerweise durch eine abschraubbare Kappe geschützt, die Abreißschnur für den Reibungszünder mit der daran befestigten Perle.»
«Lassen Sie’s damit gut sein», mahnte von Canow.
«Sehr wohl … Sich eine solche Stielhandgranate widerrechtlich anzueignen, in einer Kaserne, auf dem Schlachtfeld oder in der Fabrik, dürfte für den Täter in diesen Zeiten nicht schwer gewesen sein.»
«Sie machen uns ja Mut!», rief von Canow. «Das ist geradezu defätistisch.»
«Diesen Ausdruck aus dem Französischen weise ich mit Nachdruck zurück!», rief Dr. Kniehase.
«Ende der Besprechung», sagte von Canow. «An die Arbeit, meine Herren!»
Das taten Hermann Kappe und Gustav Galgenberg dann auch und machten sich auf den Weg zu Dorothea Röddelin. Die war inzwischen, wie man am Telefon erfahren hatte, aus dem Krankenhaus entlassen worden und hatte erst einmal bei ihrer Schwester, einer gewissen Amanda Nieswandt, Quartier genommen. Deren Adresse war schnell in Erfahrung gebracht, da sie einen Seifenladen