Novembertod. Iris Leister
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«Quatsch mit Soße.»
«Für dich ist immer alles Quatsch mit Soße.»
«Mensch, Kappe, was macht ihr denn hier?» Kappe sah hoch. Trampe, sein alter Nachbar aus der Waldemarstraße, stand vor ihm. Er trug ein Schild in der Hand. «Sag bloß, es ist so weit.»
«Sie will nicht weiter.» Kappes Stimme war vor Aufregung ganz rau.
Trampe hockte sich vor Klara. «Kommt das Kind?»
Klara sah ihn an. «Ist sowieso egal. Ich hab ja jetzt die Grippe.» Trampe besprach sich kurz mit den Männern, mit denen er im Zug gelaufen war. Er gab ihnen das Pappschild. Kappe las die Aufschrift DeTeWe - Generalstreik - Schluss mit dem Krieg eher nebenbei. Die Männer zogen weiter.
Kappe und Trampe versuchten, Klara aufzuhelfen, doch sie stöhnte nur und klappte zusammen wie ein nasser Sack. «Klara, wir gehen am besten ins Krankenhaus. Da lassen wir dich untersuchen.» Kappe streichelte ihre Hand. «Bist du bereit?»
Sie zuckte mit den Schultern.
«Na los, wir versuchen es noch einmal.» Die beiden Männer nahmen Klara zwischen sich und zogen sie hoch. Sie gingen ein paar Schritte.
«Ich schaffe das nicht», schluchzte sie auf.
Die beiden Männer setzten sie vorsichtig ab. «Verdammt!» Kappe sah Trampe an. Der überlegte einen Moment. «Bin gleich zurück», sagte er dann und rannte gegen den Strom der Demonstranten so schnell wie möglich die Köpenicker Straße hinunter. Kappe sah ihm hinterher. «Bitte, Trampe, beeil dich», sagte er leise. Er nahm Klara in den Arm und redete auf sie ein. Er hoffte, es würde sie beruhigen.
Der Aufmarsch dünnte nach und nach aus. Nur noch wenige Nachzügler kamen. Meistens Schaulustige, die nichts verpassen wollten und nun zusahen, dass sie den Anschluss an den Demonstrationszug bekamen. Klara lag blass in Kappes Armen. Er wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser. Trampe schien schon eine Ewigkeit weg zu sein. Plötzlich hörte Kappe das lauter werdende Geräusch eines schweren Motors.
«Ein Auto, Hermann!»
«Kannst du aufstehen?»
«Ich versuch’s.»
Kappe zog Klara hoch. Sie wimmerte, blieb aber stehen. Kappe stützte sie. Beide horchten angestrengt.
Der Mercedes schoss wie ein Schatten aus der Michaelkirchstraße. Kappe und Klara stolperten auf die Straße. Reifen quietschten. Der Wagen bremste. Kappe riss die Tür zum Fond auf. Die Innenbeleuchtung ging an. Eine Frau. Kappe sah ihre schwarzen Augen. Ihre schmale Nase. Darunter wölbten sich blutrote Lippen in einem blass geschminkten Gesicht, das von Locken umrahmt wurde, die glänzten, als wären sie feucht. Das Fell ihres großen Pelzkragens kräuselte sich ein wenig im Luftzug. Das Auto atmete den Geruch von Lilien.
«Frau Magno, was für ein Glück, bitte helfen Sie mir.» Klara versagte die Stimme.
«Meine Frau muss ins Krankenhaus.»
Die schwarzen Augen streiften Klara, ihr vom Weinen geschwollenes Gesicht, ihren klaffenden alten Mantel, den schwangeren Bauch, das fadenscheinige Kleid, die alten Pullover. Dann sahen sie Kappe an. Ihr Blick war wie eine Ohrfeige. In einer einzigen Bewegung beugte die Frau sich zu ihm, fasste den Innengriff und riss die Tür zu. Kappe war zu überrascht, um die Tür festzuhalten. Das Auto fuhr an, zog hart an ihm vorbei und verschwand.
Kappe starrte ihm einen Augenblick hinterher. Er war fassungslos. Er überlegte scharf, woher er dieses Gesicht kannte. Und dann fiel es ihm ein. «Das war diese Schauspielerin.» Kappe war von Klara, die eine glühende Verehrerin der Magno war, in mindestens zehn Filme geschleppt worden, in denen die Diva die Hauptrolle spielte.
«Ja. Renee Magno.» Klara lachte bitter. «Lässt uns einfach stehen. Ich muss mich hinsetzen, Hermann.» Sie ließ sich ungelenk am Straßenrand nieder. Kappe schob ihr seinen Mantel unter und setzte sich neben sie.
«Vielleicht kommt ja Trampe bald mit Hilfe.»
«Was für Zeiten! Ich weiß nicht, wann wir das letzte Mal etwas Richtiges gegessen haben.» Klara lehnte sich weit zurück.
«Und sie hatte Lilien. Und einen Wagen. Wahrscheinlich isst sie jeden Tag dreimal warm. Nicht zu fassen.» In ihre Bitterkeit mischte sich Unglauben. «Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn jetzt hier alles zu Ende ist.»
«Jetzt hör aber auf!» Kappe war gereizt. «Nichts ist zu Ende.»
«Bitte hol Margarete.» Klara schloss die Augen. Sie lehnte sich an Kappe und schwieg.
Eine gefühlte Ewigkeit später kam Trampe zurück. Er saß neben dem Kutscher eines altertümlichen Fuhrwerks. Das Pferd, das es zog, war so mager und räudig, dass Kappe daran zweifelte, ob es bis zum Krankenhaus durchhalten würde. Der Kutscher sah Kappes Blick. «Ist das änziche, was se mir gelasst ham. Und selbst fir des krieg ich kein Futter nich. Aber ich quatsch schon wiedr zu viel. Wo isse nu, die scheene Frau?»
Gemeinsam hoben die drei Männer die apathische Klara auf, verfrachteten sie vorsichtig auf die Ladefläche und fuhren zum Krankenhaus Bethanien. Aus Mitte hörte man Schüsse.
Obwohl sie gestaltet war wie eine Kirche, kam Kappe die Eingangshalle des Krankenhauses vor wie der Vorhof zur Hölle. Sie war dämmrig und der Geruch von Krankheit und Armut in ihr so streng, dass er nur noch halbe Atemzüge machte. «Das wird Klara nicht ertragen», dachte er ungefähr zum hundertsten Mal. Vor zwei Stunden war sie auf einer Trage ins Innere des Krankenhauses gerollt worden, begleitet von einer besorgten Schwester, die sich als Schwester Hedwig vorgestellt hatte. Seitdem wartete Kappe in der dunklen Halle. Trampe und der Kutscher hatten sich längst verabschiedet. Patienten humpelten auf Krücken an ihm vorbei. Er sah einen Mann, dessen halbes Gesicht verbrannt schien. Es wurde überall gehustet. Aus den Krankenzimmern drang Stöhnen. Einmal schrie jemand laut.
Um die Kranken und Versehrten nicht mehr sehen zu müssen, hatte Kappe begonnen, die Architektur zu studieren. Doch die Säulchen, ihre blattgeschmückten Kapitelle und die in Rot und Blau bemalten Ornamente erschienen ihm wie Hohn. Er betrachtete die Stuckmedaillons an den Wänden. Kappe erkannte bibli sche Szenen der Heilung. Im Dämmerlicht, inmitten der furchtbaren Geräusche und der drückenden Ausdünstungen, war es ihm, als würden die Gipsgestalten plötzlich anfangen, sich vor Schmerzen zu winden.
«Herr Kappe?» Er schrak zusammen. Schwester Hedwig stand vor ihm. Sie war so mager, dass ihre Tracht an ihr herabhing wie ein Sack. Müdigkeit umgab sie wie ein Mantel.
«Was ist mit Klara? Geht es ihr gut? Ist mit dem Kind alles in Ordnung?»
Sie schüttelte den Kopf. «Ihre Frau hat sehr hohen Blutdruck und viel Wasser im Körper. Wir müssen sie erst einmal hierbehalten.»
Kappe sank das Herz. «Das wird ihr nicht gefallen. Sie hat schreckliche Angst, sich mit der Grippe anzustecken.»
Der Blick der Schwester war stumpf vor Erschöpfung. «Wir tun unser Bestes. Den Rest wird der Herr entscheiden.»
«Kann ich sie sehen?»
«Sie braucht Ruhe. Am besten, Sie gehen jetzt nach Hause. Kommen Sie morgen wieder.»
Kappe