Novembertod. Iris Leister
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Novembertod - Iris Leister страница 8
Kappe schüttelte unbewusst den Kopf. Tatsächlich war er in den letzten Tagen Zeuge einer Art Wiederauferstehung geworden. Aber die hatte nichts mit einer guten Fee zu tun, die ihr Herz geopfert hatte. Im Gegenteil. Diese Wiederauferstehung war das Ergebnis von Kriegstreiberei und nationaler Überschätzung, die im Ruin geendet hatte. Und selbst wenn jetzt alles neu und besser wurde, fühlte sich Kappe doch wie jemand, der niedergeschlagen worden war und dem nichts anderes übrigblieb, als aufzustehen und weiterzulaufen.
Das Scheppern der Glocke riss ihn aus seinen Gedanken. Kappe schreckte hoch. Einer der Politiker hatte sie einem anderen ins Kreuz geschlagen, um ihn am Reden zu hindern. Die Zuschauer schrien durcheinander. «Einigkeit! Einigkeit!», brüllten die Soldaten in Sprechchören. Dann stürmten sie nach vorne, und die Manege verwandelte sich in ein Meer von grauen Uniformen. Schlägereien brachen los. Das Wort «Militärherrschaft» wurde durch die Reihen geraunt. Die Gesichter auf den Rängen waren ratlos, schockiert, hilflos. Kappe sah zu Trampe und Margarete, die heftig mit Luise und den anderen Sitznachbarn diskutierten. Die Glocke erklang noch einmal. Die Kontrahenten in der Manege ließen voneinander ab und zogen sich zu aufgeregten Beratungen zurück.
Dietrich Mazurat beobachtete das Durcheinander in der Manege und stieß verächtlich die Luft durch die Nase. Nichts anderes hatte er von dem Pöbel erwartet. Die fiebrigen, hilflosen Diskussionen um ihn herum - nichts als elende Naivität. Mazurat betrachtete die Diskutierenden. Rohe Gesichter, eingebrannter Schmutz, Elend. Mazurat hasste die Art von Menschen, die er hier sah. Dummes Volk, von gleichmacherischen Theorien aufgehetzt und verblödet. Trotzdem war er froh, dass er hierhergekommen war. Gestern, als ganz Berlin auf den Beinen gewesen war und Revolution gemacht hatte, war er in den Tempelhofer UFA-Studios gewesen, hatte gearbeitet und von alldem nichts mitbekommen. Das hatte ihn geärgert, denn er liebte es, informiert zu sein. Heute war er wie ein hungriges Tier auf der Jagd hierhergekommen. Er hatte drehfrei. Sogar seine Angst vor der Grippe hatte er niedergekämpft.
Mazurat strich sich mit seinen manikürten Händen die Haare glatt. Für ihn war der Zirkus Busch mit seinen tobenden, schreienden und diskutierenden Menschen ein mit menschlichen Forschungsobjekten prall gefülltes Bestiarium. Ganz nebenbei hielt er Ausschau nach bekannten Gesichtern. Man wusste nie, wozu man so eine Information brauchen konnte. Mazurat sah niemanden, den er kannte, beobachtete aber trotzdem alles, gleichzeitig fasziniert und abgestoßen. Er sammelte Gesichter, Kleider, Gesten. Knollennasen, Hängenasen, Spitznasen, wulstige Lippen, Tränensäcke - er saugte die Physiognomien in sich auf: den gedrungenen, blassen Blonden schräg vor ihm mit dem Schnauzbart und den wässrigblauen Augen, der aus jeder Pore Niedergeschlagenheit auszuschwitzen schien. Der Blonde diskutierte mit einer Bernsteinaugenschönheit, die jederzeit Schauspielerin hätte werden können, wenn sie nicht diese Ausstrahlung von kompromissloser Rechtschaffenheit gehabt hätte. Langweilig. Der Blonde sah wie ein Polizist aus. Mazurat fragte sich, was er hier wollte. Er beobachtete die kleine Verblühte neben der Schönen, deren dickliche Kinnpartie bereits zu hängen begann, was auch durch die pfundweise aufgetragene Schminke nicht kaschiert wurde. Wahrscheinlich war sie Verkäuferin. Oder der Mann, der neben ihm saß: ein kahlköpfiger Riese mit stumpfer Haut und schlechten Zähnen, der mit offenem Mund gebannt auf das Geschehen in der Manege starrte. Mazurat fand, dass er aussah wie ein Kind, das sich in einen Erwachsenenkörper verirrt hatte. Um den Ärmel seines kümmerlich geflickten Jacketts trug er die rote Armbinde. Die Ärmel waren notdürftig verlängert.
Der Kindriese drehte sich zu ihm um. «Janz schönet Durcheinanda, wa?» Mazurat nickte kurz und schaute dann demonstrativ in die andere Richtung. Aber der Kindriese ließ sich nicht abschütteln. «Für wen bist du hier, Jenosse?»
Mazurat schien es besser, dem Mann etwas vorzulügen. «Für die Filmkünstler.»
«Solidarität von die Künstler.» Er stand ergriffen auf und nahm Mazurats Hand. «Nie hätt icks jedacht, aba dit janze Volk steht zusammen.» Meyer pumpte Mazurats Hand. Dabei schob sich sein Ärmel weit über das Handgelenk zurück und gab einen schmutzigen Unterarm frei. «Jestatten, Paul Meyer, Borsigwerke.» Mazurat hatte das Gefühl, dass die Schwielen und der Dreck an der Hand des Mannes sich in seine Handflächen einbrannten. Hass flammte in ihm auf. Er atmete tief durch. «Da unten spielt die Musik.» Mit einem Blick auf die Manege bedeutete er Meyer, still zu sein.
Meyer sah ihn schuldbewusst an. «Recht haste. Dafür sind wa ja ooch hier, oder?» Er setzte sich und sah folgsam in Richtung Manege. Mazurat nickte. Die Soldaten hatten sich inzwischen wieder auf die Ränge verzogen. Nur Einzelne von ihnen diskutierten noch in Grüppchen mit den Politikern. Die meisten Politiker saßen bereits wieder an den Tischen. Schließlich kehrten alle wieder an ihre Plätze zurück. Im Saal wurde es ruhig.
Der Mann, der den anderen vorhin mit der Glocke angegriffen hatte, verkündete irgendetwas. Außer den unteren Rängen konnte auch jetzt niemand etwas verstehen. Die Neuigkeiten brauchten eine Zeit, um sich in einer Art Flüsterpropaganda durch die Ränge zu arbeiten. Schließlich raunte ihm Meyer etwas von einem Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte zu und dass die Reichsregierung bestätigt sei und nun «Rat der Volksbeauftragten» heiße. Mazurat war das alles völlig egal. Dieser Blödsinn würde am nächsten Tag sowieso in den Zeitungen stehen. Er würde ihn nicht einmal zu Geld machen können. Er roch Meyers sauren Atem. Es widerte ihn an. Als alle im Saal aufstanden, um die Internationale zu singen, drängte er sich in Richtung Ausgang. Er durchquerte die Eingangshalle, die unter den fast dreitausend Stimmen vibrierte, und ging hinaus. Die Flügeltüren schlugen hinter ihm zu und kappten den Gesang. Das Schwappen von Wasser war zu hören - die Spree. Eine S-Bahn quietschte. Mazurat hielt im Lichtkegel der Eingangsbeleuchtung inne und schaute in das Schwarz, das die Stadt war. Dann betrachtete er im wächsernen Licht der Lampe etwas, das er in seiner Hand hielt. Es war ein Skalpell. Und die Armbinde, die er Meyer unbemerkt vom Arm geschnitten hatte. Er steckte sein Skalpell und das rote Stück Stoff in die Brusttasche seines maßgeschneiderten Anzuges. Dann strich er sein Haar nach hinten, setzte seinen Hut auf und verschwand in der Dunkelheit. Wind kam auf.
Der Wind griff nach der Stadt wie eine große unsichtbare Hand. Er spielte mit den Bäumen und glitt durch die menschenleeren Straßen. Unter den Linden seufzten die roten Fahnen auf und blähten sich. Er trieb im Tiergarten die letzten Herbstblätter vor sich her und ließ sie achtlos vor dem Reichstag fallen. Im geldsatten Tiergartenviertel rüttelte er an den Fensterläden eines Stadtpalais. Ein Laden schlug gegen die Hauswand. Das Licht einer Schreibtischlampe rann in die Dunkelheit. Heinrich von Brettin schreckte aus den Überlegungen für seinen Kommentar hoch. Eine Nachlässigkeit des Dieners. Er überlegte kurz, ihn zu rufen. Dann stand er selbst auf und schloss den Laden. Der Kommentar duldete weder Störung noch Aufschub. Sein Blick fiel auf den Rotwein auf seinem Schreibtisch. «Rot», dachte er mit Abscheu. Er klingelte nun doch nach dem Diener. Nur wenige Augenblicke später stand wohltemperiert ein Weißwein vor ihm.
Heinrich von Brettin nippte kurz und genießerisch. Dann