Novembertod. Iris Leister
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Kappe lag fröstelnd im Bett. Der Wind pfiff durch den kalten Kachelofen und rüttelte an den Fenstern. Kappe stand auf und drückte die Fenster fest zu. Dann rückte er die dicken Karl-May-Bände, die seit der Beschlagnahmung der Fenstergriffe durch die Metallsammelstelle dazu herhalten mussten, das Fenster geschlossen zu halten, wieder dicht an den Rahmen. Er schaute in den dunklen Hinterhof und dachte daran, wie oft er die Bücher auf dem Fenstersims schon durch Steine hatte ersetzen wollen. Er war nie dazu gekommen. Kappe überlegte, ob seine Fenstergriffe wohl irgendeinem armen Kerl auf irgendeinem Schlachtfeld das Leben gekostet hatten. Der Gedanke machte ihn traurig. Nach diesem Abend, den vielen Menschen und hitzigen Diskussionen im Zirkus Busch kam er sich noch einsamer vor als sonst. Es fühlte sich an, als hätte er einen Kater. Wenn es nicht so unsinnig gewesen wäre, wäre er aufgestanden und zum Krankenhaus gelaufen.
Noch auf dem Nachhauseweg hatten Margarete, Trampe und er geredet. Trampe war ungewöhnlich gereizt gewesen. «Eine Gegenregierung, das war mit diesem Aktionsausschuss beabsichtigt. Wenn Ebert das nicht bemerkt hätte, wäre das Reich im Chaos versunken. Und ihr Unabhängigen wärt noch begeistert gewesen.»
«Hör doch auf, Trampe! Die SPD hat die Soldaten instrumentalisiert. Die haben keine politische Bildung, wollen weitermachen wie bisher. Wie soll sich denn was ändern, wenn wir dem alten Reich nur einen neuen Kopf aufsetzen?»
«Warum regt ihr euch eigentlich so auf?», hatte Kappe, dem das Ganze allmählich zu verstiegen wurde, gefragt. «Wir haben jetzt eine Demokratie, und wenn da Entscheidungen fallen, muss man sie annehmen, oder nicht?» Margarete und Trampe hatten Kappe angestarrt, als wäre er verrückt geworden. «Mal ehrlich. Was nützt es denn, wenn wir hier alles umkrempeln und nichts läuft mehr?» Kappe war nun nicht mehr zu bremsen. «Überlegt doch mal. Als sie das Polizeipräsidium gestürmt haben - was wäre passiert, wenn sie uns alle rausgeschmissen hätten? Die Banditen hätten gefeiert. So, wie es jetzt ist, können wir arbeiten. Die politischen Häftlinge sind frei, die politische Polizei ist weg, und der Kriminelle kriegt, was er verdient. Man kann eben nicht alles umstürzen.»
«Hör auf den Herrn Kommissar», hatte Trampe zu Margarete gesagt. Die war einige Zeit schweigend neben den beiden her gelaufen. «Ich hoffe, ihr irrt euch nicht», hatte sie schließlich gesagt. Kappe tastete nach den leeren Umrissen von Klaras Kopfkissen. Überall waren Fronten. Zwischen seinen Freunden. Innerhalb der neuen Regierung. Zwischen den Revolutionären. Die Einzigen, die bisher fehlten, waren die Anhänger des Kaiserreichs. Wo waren die? Kappe dachte an sein Büro. Auch hier gab es Fronten. Zwischenmenschliche. Politische. Und er hatte das Gefühl, dass er sich zwischen allen befand.
In Wedding ging Paul Meyer die acht ausgetretenen Stufen zu der Kellerwohnung hinunter, in der er und seine Familie lebten. Begleitet von einer Art Hochgefühl, war er den ganzen Weg vom Zirkus Busch über die Oranienburger und die Chausseestraße bis zum Sparrplatz gelaufen. Während er das hakelnde Schloss der Wohnungstür aufschloss, musste er an den Künstler denken, den er getroffen hatte. Komischer Typ. Aber immerhin - wer hätte gedacht, dass sogar die Künstler einen Bevollmächtigten schicken würden?
Das Schloss ging auf, und der Geruch nach Moder, Rauch und ungewaschenen Menschen schlug ihm entgegen. Er zog den Kopf ein, denn die Decken waren so niedrig, dass er nur gebückt gehen konnte. Dann zündete er die kleine Karbidlampe an. Sein Schatten flackerte über die schrundigen Wände, von denen sich die Tapeten abpellten, um schwarze Placken von Schimmel freizu geben. Es war eiskalt. Er quetschte sich vorbei am Feldbett des schnarchenden Schlafgängers in die Stube, wo das Ehebett stand, in dem sein Bruder Franz schlief. In drei vorsichtigen Schritten war er in der Küche. Das Licht der Lampe strich über die Gesichter seiner beiden schlafenden Söhne, die sich das Sofa teilten. Dann leuchtete er in das Bett neben dem Sofa. Auch seine Frau, seine Tochter und das Baby schliefen. Das Baby hustete. Meyer zog sich zurück in den Raum, in dem das Ehebett stand. Er begann sich auszuziehen. Plötzlich merkte er, dass er seine Armbinde verloren hatte. Meyer schüttelte seinen Mantel. Doch die Armbinde hatte sich nicht in seinem Mantelärmel verfangen. Er leuchtete auf den Boden, doch nur das übliche Sammelsurium von Töpfen, Holzresten, Flaschen und Lumpen leuchtete auf. Das Licht fing sich in den gusseisernen Ranken der Nähmaschine, auf der seine Frau Säcke nähte. Meyer dachte an die Raten, die sie für die Maschine noch zu zahlen hatten.
In einer Ecke glitzerte das Glanzpapier, aus dem seine Frau und die Kinder Knallbonbons gefertigt hatten, bis es im Krieg die Rohstoffe nicht mehr gab. Die Armbinde blieb verschwunden. Sein Magen knurrte, und er war völlig erschöpft. Er beschloss, am Morgen noch einmal zu suchen, zog sich bis auf die Unterwäsche aus und legte sich vorsichtig neben seinen Bruder. Die Bettdecke war klamm. Franz stöhnte und begann einen gehetzten Singsang in einer unverständlichen Sprache. Bevor sich der Singsang zu Schreien steigern konnte, stand Meyer auf und suchte auf der anderen Seite des Bettes nach dem abgegriffenen Katzenfell. Es war das Einzige, was Franz beruhigen konnte. Er fand es und umwickelte die krampfenden Hände seines Bruders damit. Franz wurde ruhig. Meyer schlüpfte wieder unter die Decke, und seine Gedanken kreisten zum tausendsten Mal um die Frage, was Franz im Krieg erlebt haben musste. Meyer erinnerte sich genau an den August im Jahr 1914, in dem der Bruder freudig ins Feld gezogen war.
«Wirst sehn, Paule, Weihnachten sitzen wa alle zusamm’ untam Baum, und ick erzähl euch meine Abenteuer», hatte Franz damals gesagt. Drei Jahre später war er zurückgekommen, blind und ohne sein rechtes Bein. Erzählt hatte er nie etwas. Meyer rieb sich die brennenden Augen. Das Baby hustete wieder. Die rote Armbinde war vergessen.
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