Die Stunde der Patinnen. Mathilde Schwabeneder-Hain
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19. Juli 1992: tödliches Attentat auf Richter Paolo Borsellino
Die erste Bombe explodiert am 14. Mai 1993 kurz vor Mitternacht an einer Kreuzung im römischen Nobelviertel Parioli. Einhundert Kilogramm Sprengstoff sind in einem geparkten Fahrzeug deponiert worden. Als das Auto des bekannten Journalisten und Fernsehmoderators Maurizio Costanzo vorbeifährt, wird der Sprengsatz mittels Fernsteuerung zur Explosion gebracht. Costanzo selbst bleibt unversehrt, sieben Menschen werden jedoch verletzt. An den umliegenden Gebäuden kommt es zu schweren Schäden. Das Attentat auf Costanzo wird als Warnung interpretiert. Seine in ganz Italien beliebte und nach ihm benannte Show hatte sich immer wieder mit Anti-Mafia-Themen befasst. Giovanni Falcone war mehrmals bei ihm zu Gast. Und in einer seiner Livesendungen verbrannte Costanzo in einer aufsehenerregenden Aktion ein T-Shirt mit der Aufschrift: Mafia Made in Italy.
Dreizehn Tage nach dem nächtlichen Anschlag in Rom schrecken die Bewohner von Florenz um ein Uhr morgens auf. Ein ohrenbetäubender Knall reißt sie aus dem Schlaf. 250 Kilo Tritol, ebenfalls in einem Auto versteckt, explodieren in der Via Gergofili, ganz in der Nähe der weltberühmten Uffizien. Fünf Personen kommen bei diesem Attentat ums Leben. 36 Menschen tragen teils schwere Verletzungen davon. Die einzigartige Gemäldegalerie wird schwer beschädigt. Rund ein Viertel des Kunstbestandes weist Schäden auf, einige Bilder sind für immer zerstört.
Doch der terroristische Flügel der Cosa Nostra schlägt weiter zu. Allein am 27. Juli 1993 explodieren fast gleichzeitig drei Bomben in Mailand und Rom. Drei Feuerwehrleute, ein Polizist und ein marokkanischer Obdachloser werden in der lombardischen Hauptstadt vor dem Pavillon der zeitgenössischen Kunst getötet. In Rom selbst wird die Lateranbasilika beschädigt und Teile der Fassade von San Giorgio al Velabro, einer der ältesten Kirchen der Hauptstadt, werden zerstört. Die Cosa Nostra nimmt neben dem Staat nun auch die Kirche ins Visier.
„Ich habe auf euch gewartet“
Zur gleichen Zeit fühlen sich die Brüder Graviano auf ihrem ureigenen Hoheitsgebiet bedroht: in Palermo, im Stadtteil Brancaccio. Zur ernsthaften Bedrohung für sie wird ein kleiner, schmächtiger und von Natur aus sanfter Mann: Giuseppe Puglisi, der Pfarrer des Viertels, von allen Don Pino genannt. Pino Puglisi ist mit Leib und Seele Priester. Das Evangelium zu verkünden heißt für ihn in erster Linie draußen bei den Menschen zu sein. Seine Pfarre sind die engen Straßen und Gassen des verrufenen Viertels, das von Arbeitslosigkeit und Drogenhandel gezeichnet ist sowie eine der höchsten Kriminalitätsraten der Stadt aufweist. Hier kämpft der „tapfere Priester“, wie er später genannt wird, darum, den jungen Menschen Mut und Hoffnung zu geben. Er will ihnen eine andere Perspektive vermitteln als die, sich als einzigem Ausweg dem organisierten Verbrechen anzuschließen.
Mitten in Brancaccio gründet Don Pino deshalb ein Sozialzentrum: das Padre Nostro. Der Pater und sein Zentrum sind der nach außen hin so gottesfürchtigen Cosa Nostra von Anbeginn ein Dorn im Auge. Denn dort spricht Don Pino von Geschwisterlichkeit, von Solidarität und von sozialem Frieden. Seine Mission sieht er im Einsatz für Gerechtigkeit und Recht, im Einsatz für die Rechte und Pflichten der Bürger und Pfarrangehörigen. Puglisi stellt sich offen und eindeutig auf die Seite der Unterdrückten und der am Rande der Gesellschaft Stehenden. Sein Ziel ist es, ein auf christlichen Werten basierendes Rechtssystem zu schaffen. Mit Wut sieht die Mafia, dass seine Worte Gehör finden und sich das Zentrum eines guten Zulaufs erfreut. Doch für Puglisi ist das alles zu wenig. Er will bei seinen Bestrebungen, die Menschen zum Umdenken zu bringen, bei den Kindern ansetzen. Er gründet eine Schule – überzeugt, dass Erziehung und Ausbildung der richtige Weg sind – und kümmert sich intensiv um Drogenabhängige. Auch für sie kämpft er um einen Platz in der Gesellschaft, für einen Weg heraus aus der Sucht. Bei seinen Predigten von der Kanzel der Kirche San Gaetano nimmt der Pfarrer sich kein Blatt vor den Mund. Er spricht die Probleme des Viertels geradeheraus an und scheut auch nicht davor zurück, die Verursacher dieser tristen und von Gewalt geprägten Realität bei ihren Namen zu nennen: Giuseppe und Filippo Graviano.
Giuseppe Puglisi
Für die brutalen und skrupellosen Bosse stellt dies eine unerträgliche Herausforderung dar. Die Berufung auf das Evangelium und die Würde eines jeden Einzelnen macht ihnen Angst. Sie fürchten, sie könnten bei der jungen Generation an Einfluss und damit an Macht verlieren. Puglisi ist eine Gefahr für sie, weil er ihre eigenen Spielregeln als verbrecherisch und unchristlich aufdeckt, weil er unerschrocken mit der Bibel in der Hand gegen die Mafia auftritt und sich nicht einschüchtern lässt. Eine Gefahr, die deshalb eliminiert werden muss. Die Bosse verhängen ihr Todesurteil über ihn. Am Abend des 15. September 1993, es ist Puglisis 56. Geburtstag, schlagen die Killer zu.
Kurz vor 21 Uhr kommt Don Pino nach einem erneuten Tag voller Anfeindungen vor seiner bescheidenen Behausung an. Seine Mörder warten bereits in einem Auto versteckt auf ihn. Als der Priester die Schlüssel zur Eingangstür ins Schloss stecken will, nähern sich zwei Männer von hinten. „Pater“, sagt einer, „Pater, das ist ein Raubüberfall.“ Es ist Gaspare Spatuzza, der den Auftrag hat, Don Pino abzulenken. Spatuzza versucht, ihm seine Tasche zu entreißen. Der Mord, das war der Plan, sollte wie ein unglücklich ausgegangener Gelddiebstahl eines Drogenabhängigen aussehen, die Tat auf einen der Schützlinge Don Pinos zurückfallen. Selbst die mit einem Schalldämpfer versehene Pistole wurde so ausgewählt, dass sie die Ermittler in die Irre führt. Es ist ein für Mafia-Attentate völlig unübliches Modell: eine Beretta, Kaliber 7,65.
Im selben Augenblick, als Spatuzza die Tasche an sich reißt, drückt der zweite Mann ab. Salvatore Grigoli schießt Puglisi aus nächster Nähe lautlos in den Nacken. Bevor der Priester zu Boden fällt, lächelt er seine Mörder an und sagt: „Ich habe auf euch gewartet.“
Der Gerichtshof in Palermo verurteilt am 13. Februar 2001 Gaspare Spatuzza und Salvatore Grigoli wegen Mordes. Giuseppe Graviano erhält im Fall Puglisi wegen „Anstiftung zum Mord“ eine lebenslange Gefängnisstrafe, sein Bruder Filippo zehn Jahre Haft. Giuseppe Puglisi wird im Mai 2013 vor hunderttausend Menschen in einem Stadion in Palermo seliggesprochen. Als erstes Opfer der Mafia in der Geschichte der katholischen Kirche.
Die Familie Graviano – so schreiben die Richter in ihrer Urteilsbegründung – übt in jenen Jahren „die absolute Kontrolle über ihr Gebiet aus“. Was immer dort auch passiert – Erpressung, Raub, Mord –, die Gravianos wissen Bescheid oder, schlimmer, sind in den meisten Fällen selbst die Auftraggeber. Ihre Herrschaft bleibt lange ungebrochen. Auch der Umstand, dass sie bereits vor 1993 in den Untergrund abgetaucht waren und sich nicht mehr in Sizilien, sondern auf dem italienischen Festland aufhalten, ändert nichts daran. Durch ihre Flucht sind sie einer Verhaftung und einer Anklage im Sinne des Mafia-Paragrafen entgangen.
Während ihre Erfüllungsgehilfen im ganzen Land Terror verbreiten, genießen die Brüder Graviano – wie sich später herausstellt – das Leben in einer luxuriösen Villa am Meer. Die Geschäfte führen sie aber – auch dank ihrer Schwester – sowohl vom Untergrund aus als auch später aus dem Gefängnis heraus weiter. Am 27. Jänner 1994 werden Giuseppe und Filippo in Mailand verhaftet. Nach einer ausgiebigen Shopping-Tour mit ihren Frauen wollen die beiden den Abend im Restaurant „Il Cacciatore“ ausklingen lassen. Die sonst so vorsichtigen Bosse wittern die Gefahr nicht. Die Polizisten sitzen, als harmlose