Vielleicht begab es sich aber .... Eckart zur Nieden
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Читать онлайн книгу Vielleicht begab es sich aber ... - Eckart zur Nieden страница 6
Alle erhoben sich. Hagar sah sich um. Einige konnten den Zorn in ihren Gesichtern nicht ganz verbergen, andere zeigten sich unterwürfig, wieder andere blickten nur voller Neugier.
Während der Alte mit dem Übersetzer sprach, ging seine Frau an der Reihe der Sklavinnen entlang und betrachtete jede Einzelne. Vor Hagar blieb sie stehen.
Hagar staunte. Die Frau schien etwa so alt wie ihre Großmutter zu sein, aber sie sah aus wie ihre Mutter. Ihr ebenmäßiges Gesicht strahlte eine Hoheit aus, wie man sie eher bei Königinnen erwartet als bei Frauen von Schafhirten. Ihre ruhig und ein wenig stolz blickenden Augen waren genauso schwarz wie ihr Haar, in dem sich noch keine graue Strähne zeigte, und das ihr lang und voll über die Schultern fiel. Ihre gerade Körperhaltung ließ darauf schließen, dass sie nicht wie Hagars Mutter viel bückend gearbeitet hatte. Sie trug ein einfaches, nur mit wenig Stickerei verziertes Kleid, das aber offenbar neu war und in seiner Schlichtheit die Schönheit und Würde der Trägerin noch unterstrich.
Nun winkte Sarai den Übersetzer herbei und sagte etwas zu ihm. Der sprach zu Hagar: »Deine Herrin will wissen, wie du heißt.«
»Hagar, Herr.«
»Du musst nicht mich ansprechen! Sie ist deine Herrin. Wie alt bist du?«
»Ich habe vierzehn Sommer gesehen.«
Nach einem Wortwechsel mit der Hebräerin sagte der Mann: »Deine Herrin hat dich aus all diesen Frauen ausgewählt, ihr persönlich als Magd zu dienen. Das ist eine besondere Ehre! Sei allezeit freundlich, höflich, fleißig und zuverlässig bei allem, was du zu tun bekommst!«
Hagar starrte die beiden abwechselnd an und wusste nicht, wie sie auf diese Worte reagieren sollte. Der Übersetzer fauchte sie an: »Verbeuge dich!« Erschrocken neigte Hagar ihren Oberkörper. Als sie hörte, dass die beiden miteinander redeten, dachte sie, dass sie nun sicher wieder gerade stehen dürfe, und richtete sich auf.
»Deine Herrin wird eine ihrer bisherigen Mägde beauftragen, dir die hebräische Sprache beizubringen, und dazu alles, was du für die Arbeit in ihrem Zelt wissen musst.«
Hagar nickte. Dann fiel ihr ein, dass es vielleicht angebracht war, sich noch einmal zu verbeugen, und tat es. Als sie sich wieder aufrichtete, war ihre neue Herrin schon weitergegangen.
Aber dann kam sie noch einmal zurück, redete mit dem Übersetzer und zeigte auf Hagars Füße. »Du sollst dich waschen!«, sagte der Mann. »Da klebt noch Lehm zwischen deinen Zehen. Und auch sonst sollst du dich waschen. Wer schwitzt, zieht die Fliegen an.« Schnell folgte er der Frau mit Namen Sarai, die schon weitergegangen war.
***
»Träumst du, Mutter?«
Hagar schreckte auf. Ja, sie war in Gedanken in ihrer Kindheit gewesen. Vielleicht hatten die Fliegen sie daraufgebracht. Sie schabte gerade mit einem Bronzemesser das Fett von der Innenseite eines Schaffells. Das zog immer die Fliegen an, die sich davon reichlich Nahrung versprachen. Sie umkreisten sie in schwarzen Schwärmen, so wie damals, als sie schwitzend den Lehm stampfen musste. Eine Plage sind diese Fliegen, dachte sie. Gierig stürzen sie sich auf das, was von früherem Leben übrig geblieben ist. Sie leben vom Tod einer anderen Kreatur. Aber tun wir das nicht alle?
»Mutter! Wo bist du mit deinen Gedanken?«
Ach ja, der sie da ansprach, war nicht ihr Vater, der sie zum fleißigen Stampfen antreiben wollte, sondern ihr Sohn. Inzwischen war der fast so alt, wie ihr Vater damals gewesen war, sogar die Stimme klang so ähnlich. Nur freundlicher. Und sie selbst, Hagar, war fast so alt, wie ihre Großmutter damals gewesen war.
»Ja, Ismael, ich war mit meinen Gedanken in Ägypten. In meiner Kindheit.«
»Sehnst du dich zurück?«
»Nein, mein Sohn. Nein, ich sehne mich nicht zurück. Es war nicht schön damals.«
»Man sagt aber, alle Erwachsenen fänden im Rückblick, ihre Kindheit sei eine schöne Zeit gewesen.«
Hagar nickte. »Das mag für die meisten zutreffen. Aber nicht für mich.«
»Für mich trifft es zu«, meinte träumerisch der junge Mann. »Ich erinnere mich gern an die Zeit, als mein Vater mich als Kind auf den Schultern getragen hat, oft weite Strecken, wenn er zu den Weideplätzen ging. Oder wie er mir abends Geschichten erzählt hat, von seiner Heimat im Land der zwei Ströme oder in Haran am oberen Euphrat. Auch, wie er von Gott sprach. Oder wie er mir erklärte, wie ich den Bogen handhaben sollte, den er mir gemacht hatte.«
Hagar schabte eine Weile schweigend weiter und achtete nicht auf die Fliegen, die sich auf ihrem Gesicht niederließen. Schließlich sagte sie: »Es ist gut, Ismael, behalte das nur in guter Erinnerung. Die schöne Zeit war ja dann bald zu Ende.«
»Stimmt. Als ich … wie alt war ich, als Isaak geboren wurde?«
»Vierzehn Jahre. Ungefähr so alt, wie ich war, als ich als Sklavin Abram und Sarai geschenkt wurde, die heute Abraham und Sara heißen, und mit ihnen aus Ägypten fortzog.«
Ismael setzte sich neben sie und scheuchte die Fliegen von ihr fort. »Ich weiß, dass es eine schwere Zeit für dich war, Mutter. Dass Sarai eifersüchtig war. Und als Isaak geboren war, wurde es noch schlimmer. Bis sie uns dann aus dem Zelt gejagt haben. Aber ich habe es als Kind nicht so schrecklich empfunden, wie du es wohl empfinden musstest.«
»Das ist gut so, mein Sohn. Du sollst nicht mit Groll an deinen Vater denken. Aber du verstehst sicher auch, dass ich enttäuscht bin. Ich war gut genug für ihn, ihm einen Sohn und Erben zur Welt zu bringen. Aber als seine erste Frau doch noch einen Sohn bekam, galt ich nichts mehr.«
»Es ist nicht seine Schuld, Mutter, dass er uns vertrieben hat. Es geschah auf Saras Betreiben.«
»Na und? Hätte er sich nicht dagegen behaupten können? Ist er nicht der Patriarch, das Oberhaupt der Sippe?«
Ismael stand auf. Er wollte das Gespräch nicht fortsetzen. Es schmerzte ihn, wenn von seinem Vater so gesprochen wurde. Er nahm seinen Bogen, legte einen Pfeil auf und schoss auf die Terebinthe, die schon vorher das Ziel seiner Schießübungen gewesen war.
Hagar spürte, was in ihm vorging. Er hatte recht, sie sollte nichts Böses über Abraham sagen, nicht ihm gegenüber. Um das Thema zu wechseln, rief sie ihm zu: »Lass es gut sein, Ismael! Jetzt hast du zwölfmal auf den Baum gezielt und zwölfmal getroffen. Was willst du noch verbessern?«
Ismael lachte, und das freute Hagar, denn es zeigte ihr, dass die Missstimmung schnell vergangen war. »Ich will fünfzigmal darauf zielen und fünfzigmal treffen.«
Als er die letzten Pfeile verschossen hatte – sie steckten alle im Stamm der Terebinthe –, rannte Ismael hin und holte sie. Dann kam er wieder zu ihr zurück in den Schatten der kleinen Hütte. Die bestand aus Ästen, die mit Fellen überzogen waren.
Er drückte den Bogen mit dem Knie durch und hängte die Sehne aus, um ihn zu entspannen. Hagar beobachtete ihn dabei und bewunderte mit mütterlichem Stolz das Spiel der Rückenmuskeln unter der sonnengebräunten Haut. »Du wirst mal ein großer Jäger«, murmelte sie. »Ach nein, du bist ja schon einer.«
Ismael legte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute