Der älteste christliche Text. Gerd Ludemann
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Des Weiteren verweisen die Verfechter der Frühdatierung der Europamission und des 1Thess darauf, dass die herkömmliche Rekonstruktion der Chronologie des Paulus an mehreren Punkten unstimmig ist:
1. Falls die Missionierung Griechenlands erst nach der Konferenz stattfand, hätte Paulus sich verpflichtet, eine Kollekte von Gemeinden einzusammeln, die damals noch gar nicht bestanden. Dies erscheint nicht plausibel, denn die Kollekte sollte kurzfristig die wirtschaftliche Not der Armen in Jerusalem lindern. Zudem war die Gründung von Gemeinden langwierig, und die Neubekehrten mussten sich erst einmal davon überzeugen lassen, eine Spende für eine ihnen sonst unbekannte Personengruppe fernab in Palästina aufzubringen.
2. Mit dem apostolischen Selbstbewusstsein des Paulus als des Apostels der Heiden – er schreibt an die römische Gemeinde: »Euch aber sage ich, den Heiden: Insofern ich nun Apostel der Heiden bin, preise ich meinen Dienst«55 – wäre es nur schwer vereinbar, dass er die eigene Mission in Griechenland erst gegen Ende seines Lebens begonnen und sich so lange vorher als Missionar der Gemeinde von Antiochien im syrischen Raum aufgehalten hätte.
3. Die Naherwartung im ältesten erhaltenen Paulusbrief, 1Thess, ist eher verständlich, wenn dieser innerhalb des ersten Jahrzehnts der christlichen Bewegung geschrieben wurde und nicht erst gegen 50 n. Chr. Die bewusste Veränderung der Aussagen in 1Thess 4,13– 17, wo das Überleben der ersten christlichen Generation bis zur Parusie56 die Regel ist, durch 1Kor 15,51–52 – hier ist das Sterben der ersten Generation die Regel – macht zwischen beiden Briefen einen recht großen zeitlichen Abstand wahrscheinlich, der über zwei Jahre hinausgeht.57
4. Paulus urteilt unterschiedlich über das Schicksal der Juden. 1Thess 2,16 zufolge ist über sie vollständig Gottes Gerichtszorn gekommen, während gemäß Röm 11,26 ganz Israel gerettet wird. Hier liegt ein Widerspruch vor. Offenbar hat Paulus seine Sicht geändert. Lägen nur zwei Jahre zwischen beiden Aussagen – wie die übliche Chronologie annehmen muss, – ließe sich dies kaum begreifen. Besteht dagegen ein zeitlicher Abstand von ca. 12 Jahren, wäre eine Wandlung eher verständlich. Dann könnte man sie als innere Reifung des Paulus verstehen.
5. Die Apostelgeschichte, kritisch gelesen, bestätigt die Frühdatierung der Griechenlandmission des Paulus, denn sie enthält einen Hinweis auf das Judenedikt des Kaisers Claudius im Jahr 41 n. Chr.58
Ein Hinweis auf den Anfang der paulinischen Mission in Griechenland
Philipperbrief 4,15–16
15 Ihr wisst aber auch eurerseits, Philipper, dass am Anfang des Evangeliums, als ich aus Makedonien wegging, keine Gemeinde mit mir in eine Gemeinschaft von Geben und Nehmen eintrat als ihr allein.
16 Denn auch in Thessalonich habt ihr mir mehrmals etwas zu meinem Bedarf geschickt.
Paulus bezeichnet die von Makedonien ausgehende Missionierung Griechenlands als den eigentlichen Anfang seiner eigenständigen Mission. Der Apostel bezieht sich schwerlich auf die Zeit nach der Jerusalemer Konferenz, sondern dürfte seine Arbeit davor im Blick haben. Phil 4,15–16 enthält aber auch eine Information zu den Ortsbewegungen des Paulus in dieser Zeit, denn von Philippi aus ist Paulus in der Tat über Thessalonich nach Athen und Korinth gezogen.59
Die Kombination all dieser Einzelheiten zeigt: Paulus hat vor der Jerusalemer Konferenz in Griechenland – in den römischen Provinzen Makedonien und Achaia – missioniert.
Chronologische Tabelle
32
Verfolgung der christlichen Gemeinde von Damaskus durch den Pharisäer Paulus, Bekehrung in Damaskus im Alter von ca. 30 Jahren, Reise nach Arabien (= Reich der Nabatäer), Rückkehr nach Damaskus (Gal 1,13–24; Phil 3,5–6)
35
Erster Jerusalembesuch, um Kephas kennen zu lernen (Gal 1,18), ca. drei Jahre nach der Bekehrung
36–49
Mission in Syrien und Kilikien (Gal 1,21), anschließend in Kleinasien und Griechenland; Gründung der Gemeinden von Philippi, Thessalonich, Korinth und Galatien (Phil 4,15– 16; Gal 4,13)
37
Vision des Paulus mit Entrückung in den dritten Himmel (2Kor 12,1–9)
41
Judenedikt des Kaisers Claudius (Apg 18,2)
Paulus zum ersten Mal in Korinth
41
Abfassung des 1Thess in Korinth (1Thess 2–3)
49
Zwischenfall von Antiochien (Gal 2,11–13) [oder nach der Jerusalemer Konferenz]
49
Zweiter Jerusalembesuch, Jerusalemer Konferenz (Gal 2,1– 10) ca. 14 Jahre nach dem ersten Besuch; Kollektenabsprache zugunsten »der Armen« in Jerusalem
49–51
Kollektenreise in die kleinasiatischen und griechischen paulinischen Gemeinden; Abfassung des 1Kor in Ephesus (1Kor 16,8), des 2Kor und des Gal in Makedonien
51
Paulus in Korinth: »Prozess« vor dem Statthalter Gallio (Apg 18,12–17) Überwinterung; Abfassung des Röm
52
Im Frühjahr: Reise des Paulus nach Jerusalem zwecks Überbringung der Kollekte (Röm 15,25–27; vgl. Apg 24,17); Festnahme in Jerusalem (Apg 21,27–36; vgl. Röm 15,31)
54
Reise nach Rom (Apg 27–28); Gefangenschaft (Apg 28, 16–31); Abfassung des Phil und des Philem
3. Eigenart
a) Kein anderer Brief des Neuen Testaments ist in solch großer Nähe zur Gründung einer Gemeinde geschrieben wie der 1Thess. Allenfalls drei Monate seit seiner Abreise waren verstrichen, als Paulus den ältesten christlichen Text, der erhalten ist, diktierte.
b) Der 1Thess hat als Brief eine besondere Form. 1Thess 1,2– 3,13 ist formal eine Einheit und bildet das Briefkorpus. Es besteht aus einer großen Danksagung mit Gebet, in die Paulus seine Korrespondenz mit den Thessalonichern eingelegt hat.60 »Der Fortschritt des Gedankens innerhalb von ›Rede und Gegenrede‹ zwischen dem Absender und Empfänger charakterisiert die Danksagung eindeutig von Anfang bis Ende, d.h. von 1,2 bis 3,13.«61 Den zweiten,