Ein Leben in zwei Welten. Gottlinde Tiedtke

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Ein Leben in zwei Welten - Gottlinde Tiedtke

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habe er eine große schwarze Ledertasche geöffnet, die zu seinen Füßen stand, und daraus zwei neue Bände von „Old Shatterhand“ gezogen. Er signierte sie und schenkte die Bücher meiner Mutter und Hildchen. Karl May hatte seinen Chauffeur sogar angewiesen, die zwei in die Schule zu fahren.

      Leider ist diese handsignierte Ausgabe in den Wirren des Zweiten Weltkrieges abhandengekommen.

      Inzwischen erreichte der Erste Weltkrieg seinen Höhepunkt.

      Mein Großvater wurde an die Front geschickt.

      Meine Großmutter kümmerte sich um die vielen Verwundeten. Als Älteste war sie jetzt für fünf Geschwister, vier Ziegen, zwanzig Hühner und das Schwein Moritz verantwortlich.

      Um Nahrung zu finden, musste sie weite Fußmärsche unternehmen, besonders schlimm war der Rückweg mit dem schweren Rucksack. Bald gab es weit und breit keine Vorräte mehr. Die Familie aß das, was sonst dem Schwein verfüttert wurde. Das Schwein zu schlachten war inzwischen verboten.

      Trotzdem fiel der geliebte Moritz dem Hunger zum Opfer und wurde heimlich geschlachtet – das ausgerechnet an dem Tag, als eine örtliche Kontrolle des Landtages bei meinen Großeltern vorbeischaute. Tosca hatte die kleine Delegation geistesgegenwärtig im Garten abgefangen. Sie lenkte sie ab und zeigte ihr die übrig gebliebenen letzten zwei Hühner und die abgemagerten Ziegen.

      „Ach, Frau Kantor, sie haben ja gar kein Schwein. Na, dann können wir ja wieder gehen“, hatte einer der Männer gesagt.

      In der Küche kochte derweil in großen Töpfen die Wurstration, die alle eine ganze Weile über Wasser hielt.

      Tosca war äußerst penibel und hatte einen ausgeprägten Putzwahn. Für meine Mutter Johanna bedeutete das, dass sie zwei Mal am Tag die rauen Sandsteinstufen des Schulhauses putzen musste. War das geschehen, kontrollierte Tosca ihre Arbeit mit dem Zeigefinger. In die gute Stube, das Wohnzimmer, durften Johanna und ihre Geschwister nur zu Weihnachten. Dort auf dem Biedermeiersofa saß auch Johannas wunderschöne Kugelgelenk-Porzellanpuppe Gerda. Spielen durfte sie nicht mit ihr. Sie durfte sie nur anschauen.

      Als endlich das Kriegsende nahte, hatten die Kinder durch die einseitige Ernährung überall Geschwüre. Johannas Bruder Gerhard hatte die Ruhr. Er hatte Gänsedreck gegessen.

      Stillleben mit Schinken v. r. n. l.: Vater Bruno, Metzger, Tosca mit Tochter Ruth, Sohn Karl und hinter der Leiter Tochter Gudrun

      Mein Großvater kam heil von der Front zurück. Abgemagert und verstört durch die unglaublich schrecklichen Erlebnisse versuchte er, sich wieder in einer fast normal wirkenden Welt zurechtzufinden.

      Bald darauf wurden meine Großeltern in eine andere Landschule im Erzgebirge versetzt.

      Es war eine sehr arme Gegend, in der es viele Leinenweber gab. In den Küchen hing ein geräucherter Hering über dem Holztisch, an dem man seine Kartoffel rieb, damit sie ein bisschen mehr Geschmack hatte – mehr gab es nicht.

      Alternativ wurde die obligatorische Pellkartoffel mit „Brächelsalz“ gegessen – eine in etwas Fett angeröstete dicke Paste aus Mehl und Salz.

      Das Lieblingsessen meiner Mutter war Rauchemat: Eine geriebene gekochte Kartoffel, die mit etwas Mehl vermischt, in eine gebutterte Pfanne gedrückt und dann auf einer Seite knusprig gebraten wurde.

      Das Ende der Kindheit

       und eine fantastische Begebenheit

      Die Jahre vergingen. Mein Großvater wurde wieder an eine neue Schule versetzt, meine Mutter und ihre Geschwister wurden erwachsen. In der Zwischenzeit studierte Johannas Bruder Gerhard Jura. Karl hingegen war in Alter von 14 Jahren Hals über Kopf von zu Hause fortgelaufen. Er wollte unbedingt zur See fahren.

      Er hatte bereits auf einem Schiff angeheuert, als mein Großvater ihn in letzter Sekunde noch davon abhalten konnte und ihn zurück nach Hause brachte. Karl wollte die große, weite Welt sehen, doch er einigte sich mit meinem Großvater darauf, dass er erst auf die Seemannsschule gehen würde, um das Kapitänspatent zu machen.

      Im Laufe dieser Zeit war er 1. Offizier auf der „Padua“, einem Schwesterschiff des Viermasters „Pamir“, und fuhr um Kap Horn. Dort musste er bei Windstärke 12 in unglaublicher Höhe in die Segel.

      Später war er Kapitän bei der Handelsmarine, die dann kurzerhand ab 1938 zur Kriegsmarine erklärt wurde.

      Jedes Mal, bevor er in See stach, besuchte er meine Mutter und bat um ihren Rat: „Hannel, wie sieht es aus, werde ich wiederkommen?“

      Meine Mutter hatte keine Angst. Von ihr ging eine unglaubliche Kraft aus. Karl erzählte mir oft, dass ihn meine Mutter durch schwere Situationen in seinem Leben geleitet hatte. Wenn er in ihre Augen sah, fand er dort einen unbeirrbaren Glauben.

      Auch dieses Mal sagte sie zu ihm: „Es wird alles gut, du kommst wieder.“

      Was kurz darauf passierte, ist so unglaublich, dass Karl immer sagte, er könne es immer noch nicht fassen, obwohl er die Geschichte bereits so oft erzählt habe.

      Die kommenden Ereignisse begannen damit, dass Karl das Kommando der „Wilhelm Gustloff“ übernehmen sollte. Das war eigentlich nichts Außergewöhnliches, denn er hatte dieses Schiff schon viele Male als Kapitän navigiert.

      Karl stand bereits an Deck, als er die Order erhielt, abzubrechen und ein anderes Schiff zu übernehmen. Er sagte, in diesem Moment habe er sich wirklich bemühen müssen, seinen Unmut über die spontane Planänderung nicht lautstark kundzutun. Er habe dann gerade noch seine Emotionen unter Kontrolle bekommen und dann schweigend das andere Schiff übernommen. Wenige Stunden später sollte er dem Schicksal unendlich dankbar sein.

      Denn an diesem Tag, dem 30. Januar 1945, sank die „Wilhelm Gustloff“ mit mehr als 9 000 Menschen an Bord durch einen russischen Torpedoangriff.

      Karls Freund, der das Kommando für ihn übernommen hatte, starb mit vielen anderen seiner Kameraden.

      Lange Zeit kämpfte Karl mit Schuldgefühlen.

      Warum hatte ausgerechnet er überlebt und alle anderen mussten sterben? Doch wie viele andere in der Marine lebte er jeden Tag mit dem Tod. Immer wieder musste er über die Ostsee hinauf nach Skandinavien und Norwegen, um Munition, Kriegsgerät und Pferde in die Kriegsgebiete zu liefern.

      Er berichtete immer davon, dass es erst nur ein paar Verletzte gewesen seien, die sie auf den Schiffen transportierten, später beförderten sie nichts anderes mehr als Verwundete. Schwer verletzte Menschen, die man unter entsetzlichen Bedingungen bergen musste. Es war kaum möglich, bis an die Steilufer heranzufahren, weil die Engländer ihre Schießanlagen in den Hängen angebracht hatten. Jedes Schiff, das sich näherte, wurde sofort beschossen.

      Entsetzliche Szenarien spielten sich ab. Man fuhr mit Begleitschiffen im Spitfire der Alliierten.

      So auch eines Tages. Karl war mit seinem Schiff gerade in ein Geschwader der Alliierten geraten. Zwei Schiffe waren bereits gesunken. Er stand auf der Brücke. Sein Steuermann war schwer verletzt. So übernahm er selbst das Ruder. Mit nur mehr einer Handvoll an Besatzung im Hagel der Geschosse. Als er wie durch ein Wunder mit dem Schiff doch noch den sicheren Hafen erreichte, bemerkte

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