Mami, ich habe eine Anguckallergie. Inez Maus
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Daraus ergibt sich natürlich die zwingende Frage, wie Benjamins Entwicklung zu diesem Zeitpunkt schon hätte professionell gefördert werden können. Darüber zu spekulieren, wäre allerdings reine Energieverschwendung.
Die ungewöhnliche Sprachentwicklung unseres Sohnes äußerte sich in vielen Besonderheiten. Außer der Beobachtung, dass Benjamin eher mit sich selbst sprach und nur bei dringenden Bedürfnissen mit uns kommunizierte, fiel uns auf, dass er keine Zweiwortsätze bildete. Einige Wörter sprach er sehr deutlich aus, andere dagegen nur rudimentär. Schon damals beobachteten wir, dass er viele Wörter lediglich ein einziges Mal benutzte. Danach schienen sie aus seinem Sprachgebrauch verschwunden zu sein. Es sollte noch über drei Jahre dauern, bis wir die Gewissheit hatten, dass davon nur Benjamins aktiver Wortschatz betroffen war, keineswegs jedoch sein passiver Wortschatz. Viele kleine, zufällige Erlebnisse zeigten uns immer wieder, dass sein Sprachverständnis sich nahezu altersgerecht entwickelte. So erwiderte er auf die Feststellung, dass sein Teller „Alle, alle!“ sei, immer: „Leer!“. Im Übrigen war er laufend damit beschäftigt, seine Spiele mit ausdauernden Monologen zu kommentieren, aber uns gelang es kaum, ein für uns verständliches Wort herauszuhören. Die folgende Aufzählung soll seine Sprachentwicklung in dieser Zeit verdeutlichen:
10 Monate: „pap-pap“
11 Monate: „Ball-la“
12 Monate: „brumm, brumm“ (Auto)
13 Monate: „danke“
14 Monate: „mam-mam“ (für Essen und Zähneputzen), „Nani“ (Banane), „alle“
15 Monate: „Hammer“
16 Monate: „Teddy“ (zu allen Plüschtieren)
17 Monate: „Leiter“, „Eimer“, „Gag-gag“ (alle Badetiere), „Nane“ (Banane), „Mama“ und „Papa“ (nicht als Anredeform)
18 Monate: „Decke“, „Auto“ (Autos und Boote)
19 Monate: „eins, zwei, drei“, „geht nicht“, „halt“
20 Monate: „Nein, nein“, „Kröte“, „mehr“, „baden“, „Didi“ (Dinosaurier und Krokodile), „Mille“ (Milch)
21 Monate: „na klar“, „Wasser“
22 Monate: „Hallo“ (ins Spielzeugtelefon), „Ei“, „Wau“, „leer“, „Saft“
23 Monate: „Arielle“, „Ines“
Mehr verständliche Worte bekamen wir in den ersten zwei Lebensjahren von unserem Sohn nicht zu hören. Ein zweijähriges Kind sollte einen Wortschatz „von vielleicht 30 Wörtern“2 bis zu 2503 Wörtern besitzen, aber kann man Wörter, die nur ein einziges Mal oder sehr selten benutzt werden, als Wortschatz bezeichnen? Wörter wie „eins, zwei, drei“ oder „Kröte“ zählten für mich damals jedenfalls nicht zum Wortschatz meines Kindes, weil ich sie für Zufälle hielt. Auch heute vermag ich auf diese Frage keine Antwort zu geben. Auffällig war weiterhin, dass Benjamin keine Fragewörter benutzte, keine Fragen beantwortete und uns nicht mit Mama oder Papa ansprach. „Mama“ und „Papa“ glaubten wir wenige Male in seinen Monologen zu hören, wenn er mit seinem DUPLO-Zoo spielte. Er benutzte seine karge Sprache nur, um etwas zu bekommen, jedoch nicht, um mit anderen Kontakt aufzunehmen. Warum konnte er aber seine Spiele mit einem derart lebhaften Geplapper untermalen und warum blieb die Qualität seiner Sprache dabei unverändert? Bücher zum Thema Spracherwerb wurden nun zu meiner bevorzugten Lektüre, aber keines kannte unsere Probleme und konnte mir irgendwie weiterhelfen. Wie sollte ich zum Beispiel einem Kind Bilderbücher vorlesen, wenn ich es nicht dazu bewegen konnte, neben mir zu sitzen und zuzuhören? Warum war mein Kind nicht an meinen Vorlesekünsten interessiert? Auch für Fingerspiele, Singen oder Musizieren zeigte Benjamin kein Interesse. Wenigstens ertrug er es einigermaßen gelassen, wenn ich mit Conrad sang und musizierte, immer in der Hoffnung, er würde sich doch einmal zu uns gesellen. Die Tochter meiner Freundin, die fast zweijährige Lisa, ließ sich inzwischen von mir mit großer Freude Bücher vorlesen, beantwortete bereitwillig einfache Fragen und hörte auch gespannt zu, wenn Conrad für Lisa den Inhalt von Benjamins Büchern erzählte. Benjamin schien das überhaupt nicht zu stören, er war kein bisschen eifersüchtig auf Lisa. Im Gegenteil: Offenbar war er froh, wenn sich niemand in sein Spiel einmischte. Er genoss es, nicht beachtet zu werden. Zu Beginn hielt ich das Fehlen von Eifersucht für eine charakterliche Stärke meines Sohnes, aber ziemlich bald fragte ich mich, ob es nicht eher ein Defizit in seiner sozialen Entwicklung darstellte.
Von den Büchern zum Thema Sprache und Spracherwerb wurden wir genauso enttäuscht wie von anderen Ratgebern. Werke mit verheißungsvollen Titeln wie „Jedes Kind kann Regeln lernen“, „Jedes Kind kann richtig essen“ oder „Jedes Kind kann schlafen lernen“, die sich „Kompetente Ratgeber für den Alltag“ nennen, wurden von einigen unserer Bekannten hoch gelobt und uns empfohlen, weil wir dort Hilfe finden würden. Wir als verzweifelte Eltern mussten allerdings feststellen, dass all diese vielversprechenden Ratschläge bei unserem Kind nicht funktionierten und uns keinen Schritt weiterbrachten. Gehörte unser Sohn also nicht zu der Kategorie „jedes Kind“? Und wenn er nicht ein „jedes Kind“ ist, was ist er dann für ein Kind?
Eines Abends, kurz vor Benjamins zweitem Geburtstag, bemerkten wir einen bedrohlichen Riss im Putz der Decke des Kinderzimmers. Ich nahm die Kinder und kreuzte kurzerhand bei meinen Eltern auf, während mein Mann die Feuerwehr rief. Die Kinder hatten schon gegessen und gebadet und sollten gerade ins Bett gebracht werden. Um ihnen unnötige Aufregung zu ersparen, hielten wir es für besser, dass ich mit ihnen wegging, bis die Situation geklärt war. Doch Benjamin fing schon an zu weinen, als wir bei seinen Großeltern vor der Tür standen. Drinnen versuchte ich, mich mit den Kindern auf eine Couch zu legen, um wenigstens ein bisschen zu schlafen, aber Benjamin stand auf der Couch, versuchte trotz Schlafsack zu fliehen und weinte immer lauter. Seine Großmutter kam herein, um mir gute Ratschläge zu geben, und Benjamin weinte noch heftiger. Sie hielt mich offenbar für völlig unfähig im Umgang mit diesem Kind, wobei ich das langsam selber glaubte, denn jeder Versuch, ihn zu beruhigen, scheiterte. Jedes Mal, wenn meine Mutter eine neue Idee zum Beruhigen zu haben glaubte, kam sie erneut herein und jedes Mal schien Benjamin noch verzweifelter zu weinen. Sicherlich hatte meine Mutter das nur gut gemeint, aber sie konnte mir nicht glauben, dass dieses kleine Kind voller Panik war und keinen Ausweg für sich aus dieser Situation sah. Vielleicht glaubte Benjamin, er müsse jetzt für immer hier bleiben oder ich würde ihn verlassen oder … Ich konnte nur mit Sicherheit sagen, dass es pure, nackte Angst war, die dieses kleine Bündel in meinen Armen verspürte, gepaart mit Hilflosigkeit, Müdigkeit und dem Gefühl einer Ohnmacht der ganzen Situation gegenüber. Auch ich fühlte mich hilflos, denn nichts, was ein anderes Kind beruhigt hätte, funktionierte bei Benjamin: kein Streicheln, kein Zureden, kein Singen, kein Schmusetier, kein Lieblingskissen, kein Trinken, kein Keks … Meine Arme schmerzten, denn es war Schwerstarbeit, Benjamin, der heftig um sich schlug, festzuhalten, damit er nicht sich oder andere verletzte. Gerade als ich nach mehreren Stunden kaum noch die Kraft hatte, mit dieser Situation weiterhin fertig zu werden, kam mein Mann und erklärte uns, der Gutachter der Feuerwehr hielte den Riss für ungefährlich, und deshalb würde er uns jetzt wieder nach Hause bringen. Kaum hatte er das gesagt und Benjamin auf den Arm genommen, hörte unser Sohn auf zu weinen, schluchzte nur noch kläglich und sank erschöpft auf die Schulter meines Mannes. Hatte er die Worte meines Mannes wirklich richtig verstanden? Da er sonst auf Fragen oder Bitten nie reagierte, zweifelte ich oft daran, ob er verstand, was wir sagten. Jetzt wurden diese Zweifel gerade wieder einmal zerstreut. Endlich zu Hause angekommen, kroch Benjamin sofort in sein Bett, obwohl er noch seine Jacke über seinem Schlafsack trug. Das wunderte uns sehr, denn so ein „Fehler“ unterlief