Mami, ich habe eine Anguckallergie. Inez Maus
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Mit drei Monaten gab es eine Menge von kleinen Ereignissen und Besonderheiten, die wir im Nachhinein als erste frühe Anzeichen für den Autismus unseres Sohnes werten. Aber wie bereits gesagt: im Nachhinein. Damals habe ich alles damit erklärt, dass Geschwister sich nun einmal unterschiedlich entwickeln und manche Besonderheiten von Benjamin fand ich auch damals schon schlichtweg faszinierend. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass er bereits mit dreieinhalb Monaten durchschlief, und zwar zehn bis zwölf Stunden. Leider fand das die Kinderärztin nicht so toll und ermahnte mich, ihn nach spätestens acht Stunden zu wecken, um ihn zu stillen. Ich fand das zwar unlogisch, da mein Baby immer noch prächtig zunahm, aber hielt mich an ihre Anweisung. Die Kehrseite der Medaille war, dass Benjamin abends mehrere Stunden brauchte, bis er zur Ruhe kam und endlich einschlief, was in der Regel erst gegen Mitternacht geschah. Wirklich erstaunt war ich über die Tatsache, dass unser Sohn tagsüber normalerweise nicht mehr schlief oder höchstens für ein Stündchen im Kinderwagen beim Spazierengehen einnickte. Da die abendliche Unruhe und das weder hungrig noch schmerzgeplagt klingende Weinen nach den Mahlzeiten fortbestanden, beschloss ich, mit Babyturnen zu beginnen. Hunger konnte ich durch häufige Stillproben und wegen der meisterhaften Gewichtszunahme definitiv ausschließen. Und die Zeit der Dreimonatskoliken war doch eigentlich auch vorbei. Einige Freundinnen rieten mir, auf Flaschennahrung umzusteigen, aber auf Verdacht abstillen und das bei all den Überempfindlichkeitsreaktionen meines Sohnes, das erschien mir wenig sinnvoll. Die Kinderärztin meinte nur, es gäbe halt Babys, die mehr schreien als andere und unser Sohn sei doch rundum gesund. Mehrere Jahre später haben wir eine Erklärung für das rätselhafte Verhalten unseres Sohnes nach den Mahlzeiten bekommen: Unsere Ergotherapeutin hatte herausgefunden, dass Benjamin kein Sättigungsgefühl wahrnimmt. Deshalb schrie er, sobald die Brust leer getrunken war. Ich fand für dieses Problem eine einfache Lösung. Wenn es kein Hunger war, dann konnte es vielleicht Durst sein, und so versuchte ich es mit einem Fläschchen voll ungesüßten Tee sofort nach der Mahlzeit. Mit Erfolg. Nach einer Weile hörte Benjamin auf zu trinken und weinte nicht mehr. Ich wunderte mich nur, dass er nach jeder Mahlzeit noch Tee trinken wollte. Und obwohl er mit dieser Methode häufiger und deutlich mehr spuckte, nahm er weiter fleißig zu, weinte weniger und das Stillen wurde durch die Gabe von Tee auch nicht unattraktiv für ihn. Heute schmerzt mich die Einsicht, dass Benjamin erst durch das Spucken des Milch-Tee-Gemisches das Signal, dass er jetzt wohl satt ist, wahrgenommen zu haben scheint.
Zurück zum Babyturnen: Zuerst besorgte ich mir Bücher zu diesem Thema und eine aufblasbare Krabbelrolle. Benjamin schien das Massieren, Streicheln und Herumrollen von Anfang an zu mögen. Beim Massieren verzichtete ich wegen seiner empfindlichen Haut auf Babylotionen. In einem Buch war zu lesen, dass mein Baby vor Freude quieksen würde, wenn ich die Finger und Zehen einzeln vorsichtig drückte. Mein Baby tat das nicht. Es quiekste und gluckste nicht vor Freude bei diesen Übungen, es runzelte eher die Stirn. Aber ich zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass Benjamin Spaß an diesen Aktivitäten hatte. Er weinte dabei nie und strahlte immer Zufriedenheit aus, wenn ich mich so intensiv mit ihm beschäftigte. Der berühmte Frauenarzt, Geburtshelfer und Kinderpsychologe Leboyer bezeichnete nicht umsonst die Babymassage als: „Ein stiller Dialog der Liebe zwischen einer Mutter und ihrem Baby. Fast wie ein Ritual, ein Tanz – die Ruhe der Bewegungen, ihre kontrollierte Kraft. Zärtlichkeit und Würde.“1 Da unser Baby tagsüber meistens nicht schlief, dehnten sich diese Übungseinheiten allmählich immer mehr aus und Conrad hatte seinen Spaß dabei, gleichzeitig auf einer benachbarten Bodenmatte Purzelbäume zu schlagen.
Sein erstes Weihnachtsfest erlebte Benjamin mit drei Monaten, und Weihnachten kommt üblicherweise die Familie zu Besuch oder sie wird besucht. Der Weihnachtsabend, den wir traditionell nur mit unseren Kindern verbringen, verlief sehr ruhig und wir bildeten uns sogar ein, dass auch unser süßes Baby große Kulleraugen beim Anblick des Weihnachtsbaumes machte. An den Feiertagen fiel uns auf, dass Benjamin jedes Mal, wenn er von einem männlichen Familienmitglied angeschaut wurde, sich wegdrehte, und zwar weg von der entsprechenden Person, aber auch weg von mir. Dieses „Kunststück“ wurde von unseren Verwandten jedem vorgeführt, der es noch nicht kannte, gewürzt mit scheinbar witzigen Interpretationen dieses Verhaltens. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein drei Monate altes Baby männliche und weibliche Gesichter voneinander unterscheiden kann, und dachte mir, dass es wohl eher die tiefen, zuweilen auch rauen, männlichen Stimmen waren, die Benjamin so sehr erschreckten. Dieses Verhalten legte er nicht meinem Mann Leon gegenüber an den Tag. Leon war außer mir die einzige Person, von der sich Benjamin halten ließ. Versuchte jemand anderes, unser Baby auf den Arm zu nehmen, schrie es herzzerreißend. Meine Mutter und meine Schwiegermutter erklärten mir, ich müsse das Weinen einfach aushalten und meinen Willen durchsetzen. Das konnte ich nicht, für mich hatte das Weinen ja einen Grund und mit der Zeit würde sich Benjamin schon an die Menschen um sich herum gewöhnen – das glaubte ich zumindest. Heute, da ich weiß, welche Schwierigkeiten unser Sohn mit der Gegenwart anderer Personen hat, bin ich froh, dass ich ihm damals intuitiv nicht noch mehr Qualen beschert habe. Nach den Familienfeierlichkeiten an den Weihnachtsfeiertagen brauchten wir abends mehrere Stunden, um Benjamin zum Einschlafen zu bewegen. Diese Probleme kannten wir bisher nur von nervenaufreibenden Arzttagen, aber bei genauerem Überlegen stellte ich fest, dass für mein Baby uns so vertraute Familienmitglieder und Freunde genauso fremd sein mussten wie Ärzte und Schwestern.
Die vierte Vorsorgeuntersuchung mit fast vier Monaten bescheinigte uns ein prächtig entwickeltes Baby, welches auch in der Lage war, das Köpfchen zu heben. Die einzige Auffälligkeit bei dieser Untersuchung bestand in einer ständig leicht erhöhten Körpertemperatur. Da Benjamin geimpft werden sollte, hatte ich die Temperatur seit einer Woche überwacht. Morgens lagen seine Werte bei 37,3–37,5 °C und abends bei 37,5–38,0 °C bei völligem körperlichem Wohlbefinden unseres Kindes. Die Ärztin sah darin eine beginnende Infektion, impfte ihn nicht und ließ uns eine weitere Woche die Temperatur messen. Nichts änderte sich, worauf die Ärztin einen Urintest anordnete, welcher ohne Befund war und somit grünes Licht für die Impfung gab. Aber der auf den Bauch geklebte Urinbeutel hinterließ bei meinem Baby verheerende Folgen: Eine anfängliche Rötung zog wassergefüllte Bläschen nach sich, die dann später aufgingen und verkrusteten. Dass dies im Windelbereich nur langsam abheilte und für unseren Sohn sehr schmerzhaft gewesen sein muss, kann wohl jeder leicht nachempfinden. Vier Wochen später zur nächsten Impfung wiederholte sich die Prozedur, denn die Ärztin erklärte mir, es gäbe keine Alternative zu diesen Urinbeuteln. Dieses Mal ordnete die Ärztin zusätzlich ein Blutbild an, was aber außer einem leichten Eisenmangel, nichts Ungewöhnliches bei einem vollgestillten Kind, keinen Befund ergab. Die verordneten Eisentropfen erbrach unser Sohn jeden Tag zusammen mit der Milch, worauf er eine Woche später ein sirupartiges Eisenpräparat verschrieben bekam, welches er etwas besser vertrug. Langsam kam es mir so vor, als sei Benjamin ein Versuchskaninchen und ich sehnte mich danach, dass er einmal irgendetwas auf Anhieb vertragen würde. Bei seiner dritten DPT-Impfung, die er aufgrund der diagnostischen Verzögerungen erst mit siebeneinhalb Monaten bekam, verzichtete die Ärztin zum Glück auf alle Tests, obwohl seine normale Körpertemperatur immer noch dauerhaft erhöht war, das heißt bis 38,3 °C am Abend ohne Anzeichen irgendeiner Erkrankung.
Wegen seines angeborenen Nabelbruches absolvierten wir in dieser Zeit mehrere Termine in der Kinderchirurgie zur Beobachtung. Immer wenn Benjamin auf dem Arzttisch unter der grellen OP-Lampe lag, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken und ich hoffte inständig, dass er nicht operiert werden musste. In dieser Zeit der gehäuften Arzttermine beobachteten wir, dass unser Baby an jenen Tagen besonders viel weinte, auch zu Hause nicht zur Ruhe kam und abends besonders lange brauchte, um endlich einzuschlafen.
Benjamin hatte schon bei der Geburt den Kopf voller blonder Haare, aber diese Haarpracht hatte den Nachteil, dass sie auch gepflegt werden musste. Jedes Mal, wenn ich versuchte, die Haare mit einer superweichen Babyhaarbürste zu bürsten, schrie er scheinbar vor Schmerz auf. Bis ich eines Tages eine Babyhaarbürste fand, die beim Benutzen Musik erklingen ließ. Das ließ ihn seinen Kummer vergessen und wenn ich flink genug war, schaffte ich es, ihn rasch zu kämmen. Nach drei Tagen war allerdings