Mami, ich habe eine Anguckallergie. Inez Maus
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Die motorische Entwicklung unseres Sohnes verlief weiterhin zu unserer höchsten Zufriedenheit. Inzwischen konnte er auch mit „Gewichten“ stehen, so stemmte er beispielsweise in der linken und rechten Hand gleichzeitig 500g Kaffee, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Er meisterte Türschwellen ohne Stolpern und ohne Festhalten am Türrahmen und er konnte sogar rückwärts laufen. Die fast gleichaltrige Tochter meiner Freundin Victoria konnte in diesem Alter gerade einmal ein bisschen krabbeln, dafür war ihr aktiver Wortschatz bedeutend größer. Das bestätigte mich erneut in meiner Auffassung, dass sich Kinder unterschiedlich schnell entwickeln. Lisa, die Tochter meiner Freundin, wird auch in absehbarer Zeit laufen können, genauso wie Benjamin demnächst neue Wörter lernen wird. Leider musste ich ziemlich bald einsehen, dass sich nur ein Teil dieser Prognose in Kürze erfüllen würde.
Ich klammerte mich weiterhin an die Fortschritte, die wir mit viel Mühe erreichten. Üblicherweise greifen kleine Kinder in diesem Alter nach ihrem Löffel und können gar nicht erwarten, endlich alleine zu essen. Benjamin hatte, wie bereits erwähnt, kein Interesse daran, selbständig zu essen. Damals glaubte ich jedenfalls, er hätte kein Interesse, heute würde ich eher sagen, er ängstigte sich vor der neuen Situation, was ihn dazu bewegte, lieber alles beim Alten zu lassen. Dieses Verhalten haben wir später noch sehr häufig bei ihm beobachtet. Also musste ich die Initiative ergreifen. Mehr als zwei Monate lang schob ich bei jeder Mahlzeit, nachdem ich ungefähr die Hälfte des Essens gefüttert hatte, unter Protest seine kleine Hand zwischen meine und den Löffel und hielt sie so lange wie möglich sanft fest. Am Anfang zog er seine Hand jedes Mal sofort wieder zurück, aber mit der Zeit erduldete er diese für ihn ungewohnte Prozedur immer etwas länger. Ich allerdings fragte mich häufig, ob das der rechte Weg war und warum mein Kind nicht aus eigenem Antrieb alleine aß. Gab es eigentlich Kinder, die zu faul zum Essen waren? Ich jedenfalls kannte kein solches Kind. Die gleichaltrigen Kinder meiner Freundinnen versuchten ständig Besteck, Tassen, Teller oder Essen bei den Mahlzeiten in die Finger zu bekommen, und auch Conrad hatte sich in diesem Alter ähnlich verhalten. Nach zweieinhalb Monaten, an einem Adventssonntag, hielt Benjamin seinen Löffel für kurze Zeit alleine in der Hand. Waren es die Kerzen, welche er wie hypnotisiert anschaute, die ihn seine Sorgen mit dem Löffel vergessen ließen? Wieder einmal war das Eis gebrochen und mit viel Übung konnte Benjamin langsam, aber stetig immer ein bisschen länger den Löffel halten und besser damit umgehen.
Obwohl ich Benjamin unzählige Male gezeigt habe, wie man Holzbausteine aufeinanderstapelt, hatte er nie versucht, das nachzumachen. Als er vierzehn Monate alt war, bastelte ich für ihn einen Adventskalender, bei dem sich hinter jedem Türchen ein DUPLO-Baustein verbarg. Kaum hatte ich ihm beim Öffnen des zweiten Türchens geholfen, schon lief er mit dem zweiten Baustein los, nahm den ersten Baustein vom Vortag und steckte beide zusammen, bevor wir irgendwelche Erklärungen abgeben konnten. Wir klatschten alle Beifall, woraufhin Benjamin für einige Wochen immer selber klatschte, wenn er die Steine fortan zusammensetzte. Mit der Zeit legte sich sein Klatschen, offensichtlich wurde es ihm angesichts der steigenden Anzahl an Bausteinen zu mühsam. Ich habe mich oft gefragt, wieso er die Steine sofort ohne Anleitung zusammenbauen konnte. Bis dahin besaßen wir nur LEGO-Bausteine, und die benutzte nur Conrad, für Benjamin in unerreichbarer Weite. Hatte er Conrad dabei zugeschaut und das Prinzip sofort auf die großen Steine angewendet, war es einfach nur Zufall oder hatte er es alleine sofort durchschaut? Wenn ja, war das in seinem Alter überhaupt denkbar oder erklärbar? Aber ehrlich gesagt, macht man sich in solchen Augenblicken keine tiefgehenden Gedanken, sondern genießt einfach nur das Gefühl, auf sein Kind stolz zu sein.
Conrad durfte zu dieser Zeit am Wochenende in der Mittagszeit einen Disney-Film schauen, während mein Mann oder ich mit Benjamin spazieren gingen. Eines Sonntags kam Benjamin nach dem Spazierengehen ins Zimmer und sah die halb aus dem Videorekorder herausschauende Videokassette. Er lief hin, schob die Kassette behutsam hinein und startete damit den Videorekorder. Zu unserer absoluten Verwunderung klebte er aber noch den Aufkleber, der sonst den Kassettenschlitz verschloss, damit Benjamin keine Spielsachen oder Lebensmittel hineinstopfte, über den Spalt. Wir wussten nicht, was wir davon halten sollten. Hatte er uns so genau beobachtet, wenn wir für Conrad einen Film starteten? Nun, da der Film einmal lief, gelang es uns nicht, ihn zu unterbrechen, da Benjamin sofort in verzweifeltes Weinen verfiel, sobald wir dies versuchten. Vielleicht hört sich das jetzt so an, als wären wir nicht konsequent genug oder würden nicht ein wenig Protest aushalten, aber die Panik, Ohnmacht und Verzweiflung, die Benjamin fast jedes Mal mit seinem Weinen zum Ausdruck gebracht hatte, lassen sich nicht in Worte fassen und waren mit dem Protest anderer Kinder auch nicht zu vergleichen. Vielleicht können das ja nur Eltern, die ein Kind mit ähnlichen Problemen haben, wirklich nachvollziehen. Unsere Überlegungen waren aber auch ganz praktischer Natur: Lohnt es sich, einen erbitterten Kampf gegen unseren Sohn wegen „Bambi“ zu führen, wenn wir im Falle eines zweifelhaften „Sieges“ dann die ganze Nachtruhe des Tages aufs Spiel setzen würden? Nein, es lohnte sich zweifelsohne nicht, denn wir mussten schon oft genug, zum Beispiel wenn es um Fragen der Sicherheit ging, unseren Willen durchsetzen. Der Aufkleber auf dem Schlitz des Videorekorders war übrigens, wie sich später zeigte, völlig überflüssig, denn Benjamin wäre nie auf die Idee gekommen, etwas anderes als Videokassetten, und zwar immer richtig herum, dort hineinzuschieben. War das nun ein Zeichen für ein braves oder für ein experimentierunfreudiges Kind?
Weihnachten stand wieder einmal vor der Tür und Conrad war wieder einmal krank. Eines Morgens in dieser Vorweihnachtszeit wachte Benjamin sehr früh auf, atmete schwer und gab beim Einatmen ein pfeifendes Geräusch von sich. Das beunruhigte mich, obwohl ich so etwas noch nie zuvor gehört hatte und auch nicht wusste, was es zu bedeuten hatte. Da ich mit Conrad zur Kinderärztin musste, beschloss ich, auch Benjamin vorzustellen. Beim Betreten der Arztpraxis, noch bevor ich etwas sagen konnte, packte mich die Schwester, zog mich in ein freies Zimmer und wies mich an, Benjamin sofort auszuziehen. Während ich das tat, erschien die Ärztin, erklärte mir, dass mein Sohn einen Pseudokrupp-Anfall habe, dass sie ihm sofort ein Cortison-Zäpfchen geben müsse und dass sie mir danach alles erklären werde. Die Ursache eines Pseudokrupp-Anfalls ist ein Virusinfekt der Atemwege, der in bestimmten Fällen zu einem plötzlichen Anschwellen des Kehlkopfes, der Stimmbänder sowie der Luftröhre führt, was in akuten Fällen zu einer lebensbedrohlichen Atemnot führen kann. Viele neue Fragen türmten sich auf. Am meisten quälte mich die Frage, ob ich mit Benjamin auch zur Ärztin gegangen wäre, wenn Conrad nicht krank gewesen wäre. Benjamin hatte an diesem Morgen kein Fieber, das bekam er erst einen Tag später, er weinte nicht und schien sich bis auf die ungewöhnliche, quälende Atmung wohlzufühlen. Würde er weitere solche Anfälle erleiden müssen? Für diesen Fall gab mir die Ärztin eine Audiokassette, worauf uns Sofortmaßnahmen erklärt wurden, und ein Notfallpäckchen mit. Des Weiteren erklärte mir die Ärztin, das anfällige Kinder, das seien überwiegend blonde Jungen, meistens bis zum vierten Lebensjahr in der Erkältungszeit unter solchen Anfällen zu leiden hätten, in Einzelfällen auch bis zur Schulzeit. Was weder die Ärztin noch wir zum damaligen Zeitpunkt wissen konnten, war die Tatsache, dass Benjamin jedes Jahr unter teilweise schweren Pseudokrupp-Anfällen litt, und das bis zu seinem ersten Schuljahr.
Sein zweites Weihnachtsfest bescherte Benjamin ein Spielhäuschen, welches geometrische Öffnungen im Dach hatte, durch die Tierfiguren mit Standfüßen