Mit Feuer und Schwert. Hans-Joachim Löwer
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Ich bin mit Yousif Salih, einem Psychotherapeuten, in Kirkuk unterwegs. Die Stadt gehört nicht zur Autonomen Region, wird aber von den Kurden beansprucht und derzeit kontrolliert. Die IS-Front ist ziemlich nahe, die Ölfelder sind ständig in Gefahr. Das äußere Elend der Flüchtlinge, das wir sehen, ist nur die Oberfläche des Problems. Viel schwerer ist es, ins innere Elend zu blicken. Salih hat versprochen, mir ein wenig zu helfen.
„Die meisten Flüchtlinge wissen nicht, dass jeder und jede ein Trauma hat“, sagt Salih. „Väter prügeln ihre Kinder, Brüder und Schwestern schreien sich an – ohne zu wissen, welche Wunden sie in der Seele tragen.“ „Gibt es ein Entrinnen aus einem Trauma?“, frage ich ihn.
„Es ist ein langer und schwerer Weg“, antwortet er. „Wir Therapeuten dürfen nie versuchen, solche Menschen zum Reden zu bringen. Wir müssen Geduld haben. Es muss aus ihnen selber herauskommen.“
Salih leitet in Kirkuk das lokale Büro der Stiftung „Jiyan“ (Leben). Sie wurde 2003, nach dem Sturz des Diktators Saddam Hussein, gegründet. „Das war die Zeit, in der radikale Muslime anfingen, die Dolmetscher umzubringen, die für die US-Invasoren arbeiteten. Wir wagten es damals nicht einmal, uns irgendein Symbol zuzulegen. Wir wollten überparteilich arbeiten und es uns mit keiner Seite verderben.“ Heute betreiben sie im Irak neun Behandlungszentren mit 75 Therapeuten, 12 davon sind in Kirkuk tätig.
Die christlichen Assyrer, sagt er, seien anders als die muslimischen Kurden; im Gegensatz zu denen seien sie keine Kämpfertypen und hätten sich meist wehrlos in ihr Schicksal ergeben. Eine Gruppentherapie wie etwa mit den Jesiden funktioniere mit Christen nicht. „Im Irak waren sie so etwas wie eine geschlossene Gesellschaft“, sagt Salih, „offen zeigten sie sich nur in Richtung Westen. Sie fühlten sich immer bedroht, so haben sie sich eingebunkert im Lauf der Geschichte.“
Jahrhundertelang haben im Orient Stammesbindungen das Leben der Araber geprägt. Bei den Assyrern, die immer mehr zur Minderheit wurden, war es der Zusammenhalt im Dorf oder im christlichen Viertel einer Stadt. „Man war nie allein, wenn etwas Schlimmes passierte“, sagt Salih. „Immer kam die ganze Gemeinschaft zu dir: Nachbarn, Freunde und Verwandte, um das Leid mit dir zu teilen.“ Jetzt, nach Flucht und Vertreibung, zeige sich die Kehrseite dieser Medaille. „Die Menschen treffen sich in ihren Notquartieren, um gemeinsam ihr Schicksal zu beklagen. Durch dieses ständige Jammern ziehen sie sich gegenseitig aber noch mehr runter. Traumatisiert, wie sie sind, machen sie ihr Drama immer größer und immer schmerzlicher – und meist sind halt keine Psychotherapeuten da, um gegenzusteuern.“
Die Leute von „Jiyan“ liefen selber Gefahr, vom Ausmaß des Leids erdrückt zu werden, fährt Salih fort. „Wir halten zwar Distanz zu unseren Patienten, das ist ja die Grundvoraussetzung, um ihnen helfen zu können. Aber stellen Sie sich einmal vor, wie viel sich da in jedem von uns ballt. Manchmal drohen auch wir unter dem Druck zu kollabieren. Ja, wir haben selber ein Trauma-Risiko.“ Das Gegenmittel sei die Gruppentherapie, die sie sich auferlegen. „Wir setzen uns zusammen und reden, so laden wir unsere Last voreinander ab. Nur so werden wir wieder innerlich frei für die nächsten Sitzungen. Es ist wie bei einem Chirurgen, der sich vor der Operation die Hände wäscht. Wir müssen uns reinigen von allem, was stört.“
Flüchtlinge aus dem Städtchen Bartella. Für Zehntausende Christen in der Niniveh-Ebene brach 2014 eine Welt zusammen.
Salih, ein muslimischer Kurde, ist Jahrgang 1975. „Leute in meinem Alter“, meint er, „haben ohnehin eine schier endlose Traumakette.“ Er hat die Diktatur von Saddam Hussein erlebt, die Aufstände der Kurden und die chemischen Waffen, die zu deren Bekämpfung eingesetzt wurden. Er hat nach Saddams Sturz die blutigen Auseinandersetzungen erlebt, die zwischen Schiiten und Sunniten ausbrachen. Einst war es die Angst vor der Folter, die ihn und seinesgleichen beherrschte, nun ist es die Angst vor Terroristen, die Menschen vor laufender Kamera die Köpfe abschlagen. „Als Zwölfjähriger musste ich mit ansehen, wie ein 15-Jähriger exekutiert wurde“, erzählt Salih. „Uns wurde damals gesagt, das sei ein Feind der Baath-Partei gewesen, so etwas war damals ein ganz normaler Teil der Erziehung. Seit ich für ‚Jiyan‘ arbeite, habe ich erlebt, dass vor unseren Büros in Bagdad und Kirkuk Autobomben hochgingen. Ich habe Attentatsopfer gesehen und gerettet, die manchmal nur noch halbe Menschen waren.“ Durch die moderne Technologie – Fernsehen, Handys, soziale Medien – rückt das Unheil so nahe wie nie zuvor an die Menschen heran. In einer Frontstadt wie Kirkuk hört man den dumpfen Schlachtenlärm oft sogar mit den eigenen Ohren. „So kommt die Gefahr schon gedanklich auf uns zu“, sagt Salih. „Du beginnst dir auszumalen, was mit dir passieren könnte. Solche Gedanken sind die ersten Auslöser eines Traumas. Es ist das Anfangsstadium eines Schneeballs, der ins Rollen kommt und immer größer wird.“ Kirkuk hatte eineinhalb Millionen Einwohner, im Zuge der Flüchtlingswelle sind es mittlerweile zwei Millionen geworden. „Wie viele Menschen in dieser Stadt haben wohl ein Trauma?“, frage ich den Psychotherapeuten. „Das kann ich Ihnen ganz genau sagen“, lautet die Antwort. „Zwei Millionen.“
Zu der Fülle an seelischen Ängsten, setzt er hinzu, komme eine große, geistige Leere. „Unser ganzes Leben lang haben wir Iraker erfahren, dass Ideen, Slogans und Programme immer nur missbraucht wurden. Die Folge ist, dass wir an keine Idee, keinen Slogan, kein Programm mehr glauben. Wie soll da aus dem Inneren des Volkes eine neue moralische Kraft wachsen?“
Aus der puren Verzweiflung heraus bildet sich stattdessen eine neue, trügerische Hoffnung. Die Rettung könne nur aus dem Ausland kommen: von Europa, von den Vereinten Nationen, von einer internationalen Streitmacht. Vor allem die Minderheit der Christen glaubt nur dann an eine Zukunft in diesem Land, wenn eine Macht von außerhalb im Irak interveniere. Das ist aber, wie man seit der US-Invasion weiß, schon einmal gründlich schiefgegangen.
So brüten sie in ihrem Elend vor sich hin und mit jedem Tag ohne Licht im Tunnel wächst die Lethargie. „Es ist wie mit einem Schiffbrüchigen weit draußen im Meer“, sagt Salih. „Die erste Stunde schwimmt er noch um sein Leben, vielleicht auch noch die zweite. Doch mit der Zeit wird er immer schwächer – und irgendwann gibt er auf.“
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