Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Geschichte der Zukunft - Erik Händeler страница 10
Die kurze Blüte von Bergbau und Metallindustrie in Essen und Düsseldorf verwelkt. Während Städte weniger, oder zumindest viel langsamer als bisher Agrargüter nachfragen, wächst das Agrarangebot weiter. Die Preise für Getreide sinken. Das bringt die gerade erst befreiten, selbständigen Bauern in Not. Ihre Landstreifen, die sie dem ehemaligen Feudalherrn abgekauft haben, sind nicht groß genug, um wirtschaftlich zu sein. Viele Kleinbauern im Rheinland und in Südwestdeutschland haben für ihre eigene Scholle in der Hochkonjunktur Kredite aufgenommen. Nun ringen sie um ihr Überleben, weil während der Agrarkrise in den 1820ern die Preise fallen – wie immer in einem Kondratieffabschwung. Zwar leiden auch Handwerk und die kleine Industrie unter verschärftem Wettbewerb und weniger Umsatz bei gleichen Fixkosten, doch nirgends sinken die Preise so sehr wie in der damaligen »old economy«, der Landwirtschaft.13 Ein Bauer muss eine immer größere Menge an Getreide in die Stadt karren, um dafür ein Werkzeug aus Eisen zu kaufen. Viele können jetzt ihre Höfe nicht mehr halten. Die anderen aus der Leibeigenschaft befreiten Bauern, die jetzt als Landarbeiter leben, werden von den Grundherren einfach nicht mehr beschäftigt. Sie wandern aus oder suchen eine Lebensexistenz in den Städten. Eine Arbeiterschaft, die für die Industrialisierung nötig ist, entsteht in Deutschland also erst dann, als es im langen Abschwung an ausreichenden anderen Arbeitsmöglichkeiten fehlt.
Oder ist das alles nur ein deutsches Problem gewesen und es hat nie einen Abschwung des ersten Kondratieff gegeben? Wenn Wirtschaftshistoriker heute das britische Bruttosozialprodukt schätzen, zeigen die Zeitreihen über die 1820er und 1830er hinweg ständig nach oben. Und doch kommt es auch in England zu einer schweren Rezession mit fallenden Preisen und einer geschätzten Arbeitslosigkeit von 20 bis 30 Prozent der arbeitsfähigen Erwachsenen, wie es Romane von Charles Dickens, zum Beispiel »Hard Times«, überliefern. Das harte Leben im Gefolge der »New Poor Law« in den 1830ern folgt dem heutigen Muster, aus Geldmangel die Arbeitslosenhilfe zu kürzen oder deren Bezug zu erschweren. In der Kultur spiegeln Biedermeier und Romantik das Lebensgefühl der wirtschaftlichen Stagnationsjahre. Nein: Es hat einen Kondratieffabschwung gegeben, und zwar für alle.
Warum Arbeitslosigkeit ein Produktivitätsproblem ist
Die weltweite Agrarkrise bricht nicht deshalb aus, weil die Landwirtschaft so produktiv geworden ist, sondern weil die Gesamtwirtschaft – so wie heute – nicht ausreichend produktiver wird: Sonst könnten die Bauern in produktiveren Branchen arbeiten als auf ihrem kleinen Hof, den sie mangels Spezialisierung und mangelnder Größe ineffizient bewirtschaften. Das Elend der Bauern ist Ausdruck verdeckter Arbeitslosigkeit. Die Soldaten sind aus den Kriegen heimgekehrt und die Jugend stirbt nicht mehr auf den Schlachtfeldern. Erbteilungen verkleinern die Ackerfläche pro Bauer weiter. Deren Alternativen sind nicht verlockend: Elendshütte in der Stadt, nur mit viel Alkohol zu ertragen. Oder wochenlang auf einem Auswandererschiff unter Deck und frieren in der Fremde.
Aber die Krise der 1820er/30er muss kommen, weil man Menschen nicht so schnell ändert (oder heute auf einen kooperativen Arbeitsstil umstellt), wie man eine Dampfmaschine erfindet: Niemals würden die Bauern freiwillig ihren generationenlangen Lebensrhythmus verlassen und sich dem Takt der Maschinen unterwerfen, niemals würden die Fürsten den Bürgern Freiheiten gewähren. Nur wenn sich zu viele Menschen in den alten Branchen drängeln, deren Produktivität der jeweiligen new economy (hier Textil und Metall) völlig hinterherhinkt, wird der Druck irgendwann groß genug, den Beruf und damit das ganze private Umfeld so radikal zu verändern; nur dann stehen die Ressourcen bereit, den nächsten Strukturzyklus zu erschließen.
Der Kondratieffzyklus legt den Rückwärtsgang ein, weil Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr produktiver werden. Im Aufschwung ist die Produktivität gestiegen, weil man immer noch mehr vom Gleichen macht; im Abschwung dagegen sinkt die Produktivität gerade deshalb, weil man immer noch mehr vom Gleichen macht, aber das technische System jetzt seine Grenze erreicht hat. Kondratieff nennt das die »Realkostengrenze«, um zu verdeutlichen, dass es sich hier nicht um einen Mangel an Geld handelt: Während eines Strukturzyklus produziert der Mensch mit einer bestimmten Kombination aus Arbeitskraft und -kompetenz, Maschinen auf einem bestimmten technischen Niveau mit einer bestimmten Mischung aus Rohstoffen. Irgendwann wird einer dieser Produktionsfaktoren so knapp, dass sich weiteres Wachstum nicht mehr lohnt, weil er sich nicht einfach von einem Jahr auf das nächste schnell vermehren lässt. Fünf rechte und sieben linke Schuhe ergeben nicht sechs Paar, sondern eben nur fünf Paar Schuhe.
Am Ende wird der erste Kondratieff von einem Produktionsfaktor gestoppt, der sich nicht so einfach von heute auf morgen vermehren lässt: Der Transport von Erz, Kohle, Roheisen und Fertigprodukten ist bei diesen wetterabhängigen Straßenverhältnissen, störrischen Zugtieren vor dünnen Holzlastkarren und wenigen Kanälen so teuer, dass sich weiteres Wachstum selbst in England nicht mehr lohnt, obwohl dort schon lange in Bergwerken Erfahrungen mit von Pferden gezogenen Wagen auf Eisenschienen gemacht werden und 1825 die erste Dampfeisenbahn von Stockton nach Darlington fährt.
Um wie viel größer sind da die Transporthürden in Deutschland: 39 deutsche Kleinstaaten pochen auf ihre Souveränität mit eigener Währung, auf eigene Vorschriften und sogar auf Zölle für die bloße Durchfahrt von Waren. Wer als Unternehmer die Schwierigkeiten überwunden hat, wirtschaftlich zu produzieren, der kann seine Waren kaum weiterverkaufen. Es ist viel zu teuer, sie zu entfernteren Kunden zu bringen, und den Weg dorthin behindern Zollschranken. Die deutschen Unternehmer bitten daher 1819 die Bundesversammlung, die Zollschranken zwischen den deutschen Staaten aufzuheben. Nicht nur, dass die Bittschrift ohne Erfolg bleibt – sie erzürnt die hohen Herren sogar. Denn die Fürsten, Könige und Feudalherren wollen keine mündigen Bürger, die unternehmerisch selbständig und frei entscheiden, sondern gehorsame Bauern, die ihren Zehnten abliefern. Andererseits kann das neue technologische System, der neue Kondratieff-Strukturzyklus, nur mit flexibel agierenden Akteuren funktionieren.
Das ist der wirtschaftliche Hintergrund für den Kampf zwischen Demokratisierung und monarchistischer Herrschaft im 19. Jahrhundert. Und es ist ein Beispiel dafür, dass es zu langen Kondratieffkrisenjahren kommt, weil die gesellschaftlichen Institutionen ihre Stellung verteidigen, anstatt sich auf ein neues Paradigma einzustellen: Die Fürsten denken, sie lösen das Problem, indem sie den Verursacher dieser ärgerlichen, ihre Macht aushöhlenden Bittschrift von 1819 eliminieren: den jungen Volkswirtschaftsprofessor Friedrich List, der sich vehement und über alle damals verfügbaren Informationskanäle für die Zolleinheit einsetzt. Zuerst zwingen sie ihn, seine Professur niederzulegen. Als ihn das allein nicht mundtot macht, planen sie, ihn loszuwerden, indem sie ihn zur Festungshaft verurteilen und ihn vor die Wahl stellen, entweder im Verlies zu schmachten oder in die USA auszuwandern. Sie irren sich gewaltig, wenn sie denken, es kehre nun Ruhe ein, als List auf das Schiff in die USA verfrachtet wird. Denn List – nomen est omen – findet einen Weg, wie er als »unbesoldeter Anwalt des deutschen Volkes« für Zollfreiheit und Eisenbahnbau kämpfen kann, ohne dass ihn ein Monarch und seine Bürokraten daran hindern: Er kehrt 1832 als amerikanischer Konsul zurück und kann – diplomatisch immun – reden und schreiben, wie er will.
List weiß: Der Weg zu einem neuen Aufschwung ist nur frei, wenn Güter endlich über weite Strecken hinweg mobil werden – politisch unbehelligt und zu ökonomisch vertretbarem Aufwand. Die Kostengrenze des ersten Kondratieff erzeugt das große Investitionsbedürfnis für den nächsten Strukturzyklus, für den Eisenbahn-Kondratieff. Doch bis Deutschland mit einem ausreichenden Streckennetz bedeckt ist, bis es genug Schienenfabriken und ausgebildete Lokführer gibt, vergeht mehr als eine Generation. Das ist der Grund, warum Kondratieffzyklen so lange dauern.
2. Kondratieffaufschwung Freie