Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler

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Die Geschichte der Zukunft - Erik Händeler

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weg ist, zeigen Aussagen von Wirtschaftshistorikern, die sich an den üblichen mathematisch-monetären Denkmodellen orientieren: Die Eisenbahn habe mit dem großen Wirtschaftswachstum von den 1840ern bis 1873 gar nichts zu tun, weil sie nur zwei Prozent zum Bruttosozialprodukt beigetragen habe. Dabei geht es doch gar nicht um einfache Mengen- und Wertaufzählungen von Kohle, Eisen oder Schienenkilometern, sondern darum, wie sich Lebensqualität, Nutzen und Produktivität verändern, nachdem Menschen, Güter und Rohstoffe so einfach überallhin transportiert werden können.

      Man stelle sich vor, wie beschwerlich es ist, Waren mit einem Ochsen- oder Pferdekarren über lehmige Feldwege durch eine typisch deutsche Mittelgebirgslandschaft zu schleppen: Je nach Wetter und Boden dauert es Wochen, Handelsware einige hundert Kilometer weit zu transportieren. Das Reisen in Kutschen ist eine Qual, und die Kapazitäten sind damals sehr gering. Der Sprung von der Landstraße auf die Eisenbahn ist ungeheuer. Der gewonnene Wohlstand besteht nicht aus zählbarem Geldwert, sondern aus materiellem »Realkapital« und eingesparten sozialen Kosten: Das sind die zusätzlichen Gütermengen, die ein Waggon mehr transportiert als ein Schiff oder Pferdegespann. Viel mehr Menschen können es sich jetzt leisten, zu Hause mit Kohle zu heizen – für den Konsumenten in London halbiert die Eisenbahn zwischen 1820 und 1850 den Preis für die Tonne Kohle von 31 auf 16 Schilling. Auch Eisen ist für jeden Kleinhandwerker immer einfacher zu erwerben, weil es dank Eisenbahn weniger kostet. Lieferungen werden pünktlich, zuverlässig, planbar. Haben Unternehmer vorher sicherheitshalber große Lager angelegt, kommen sie nun mit weniger Vorräten aus, was wieder Geld frei macht für produktivere Investitionen. Durch die täglich frischen Lebensmittel aus den ländlichen Regionen wird es jetzt möglich, große Industriearbeiterheere zu ernähren. Gedacht und gebaut für den Frachtverkehr, sind die Investoren überrascht, als auch Passagiere die neue Transportmöglichkeit überrennen. Der Horizont der Menschen weitet sich.

      Im ersten Jahr nach Eröffnung der Eisenbahnlinie Liverpool-Manchester fahren diese Strecke 400.000 Menschen mit der Bahn. Das ist billiger als mit der Postkutsche – und komfortabler. Die Eisenbahn spart all die Zeit, die ein Händler sonst auf einem gefrorenen Kanal festsitzt, schenkt Arbeitszeit, die einem zusätzlich bleibt, weil man mit dem Zug viel schneller am Ziel ist, ja sie ermöglicht zusätzliche Lebensjahre, weil das Bahnreisen meine Gesundheit mehr schont, als wenn ich mich zu Fuß oder auf dem Pferd körperlich überanstrenge. Dazu die vielen Pferde, die nicht mehr auf Langstrecken verschlissen werden und nun dem örtlichregionalen Individualverkehr zur Verfügung stehen. Es ist unmöglich festzustellen, wie stark die Eisenbahn den Wohlstand der jeweiligen Volkswirtschaften vermehrt (was verdeutlicht, dass die Investitions-Multiplikatormodelle der etablierten Volkswirtschaftslehre reichlich albern sind).

      Anstatt die investierten Geldbeträge erbsenzählerisch zusammenzurechnen, sollte die Wirtschaftswissenschaft dazu übergehen, sich im realen Leben anzusehen, wo investiert wird und mit welcher Wirkung: Die Krimifigur Sherlock Holmes des Schriftstellers Sir Conan Doyle erlebt ihre Abenteuer in der Eisenbahn. 1846/​48 nimmt diese die Hälfte aller Investitionen in Großbritannien auf.14 Welchen Sprung die weltweite Infrastruktur im zweiten Kondratieff macht, veranschaulicht Jules Vernes Roman »In 80 Tagen um die Welt«: Der Ökonom Eric Hobsbawn errechnet, dass die Romanfigur Phileas Fogg 1848 noch mindestens elf Monate für dieselbe Reise benötigt hätte, die 1872 tatsächlich in 80 Tagen machbar erscheint.

      Die Eisenbahn ist die Basisinnovation des zweiten Kondratieff-Strukturzyklus, sie treibt Wirtschaft und Gesellschaft voran. Sie ist nicht nur eine, sondern ein ganzes Bündel vernetzter Innovationen: eine Kombination aus einem bisschen Stahl für die Lokomotiven, ausreichend starken Dampfmaschinen, Neuentwicklungen wie dem Dampfhammer oder noch besseren Luftdüsen, um in gigantischen Mengen den Rohstoff für die Schienen zu produzieren: Eisen ist das wichtigste Material dieser Zeit. Je einfacher und billiger die Schienen werden, umso leichter lassen sich neue Strecken finanzieren. Um 1850 ist die Eisenbahn der größte Abnehmer der Eisenindustrie und der Kohlebergwerke. Einige Autoren, die Kondratieffs Theorie zitieren, irren, wenn sie den Stahl schon dem zweiten Kondratieff zuordnen. Bis 1870 wird der wenige und noch zu teure Stahl nur für ein paar besondere Maschinen verwendet – die Gleise der Eisenbahn sind damals tatsächlich noch aus Eisen.

      Zwar rosten und verschleißen sie fünfmal schneller als später die besseren Stahlschienen. Aber das reicht für einen historisch einzigartigen Sprung auf ein neues Wohlstandsniveau: Mit der Eisenbahn sind Fabriken nicht mehr von Erz- und Kohlevorkommen abhängig – sie können nun in jeder Größe und überall dorthin gebaut werden, wo es einen Eisenbahnanschluss gibt und ein Flüsschen als Abflusskanal. Kohle, Eisen und alles erdenklich andere kann zu jedem bewohnten Ort transportiert werden – erst recht zu den neuen großflächigen Industriegebieten in London, Berlin und Paris. Auch auf See verändert das neue technologische System das Tempo: Mit ihren leistungsfähigeren und energieeffizienteren Antrieben verdrängen Dampfschiffe die Mastensegler. Immer weniger Kohle müssen sie für eine Fahrt mitnehmen, was mehr Raum für Ladung übrig lässt, immer größer können sie gebaut werden. Ihre weltweite Tonnage explodiert zwischen 1851 und 1871 von 264.000 auf fast zwei Millionen.15

      Nicht während des ersten Kondratieffs, sondern erst jetzt kann die Dampfmaschine ihr Produktionspotenzial großflächig entfalten. Der Ökonom Hobsbawm dokumentiert16, dass die weltweit installierte Dampfkraft in den 20 stärksten Jahren des zweiten Kondratieffaufschwungs von vier Millionen PS 1850 auf 18,5 Millionen PS bis 1870 zunimmt. In diesen nur zwei Jahrzehnten vervierfacht sich die globale Eisenproduktion, das Weltbruttosozialprodukt steigt um mehr als das Doppelte.

      Dabei ist eine vorherrschende Meinung, die Wirtschaft beginne in dieser Zeit wieder zu boomen, weil große Goldfunde gemacht worden sind: In Kalifornien bricht in den 1840ern der Goldrausch aus, neue Minen werden in Alaska und Australien gegraben. Kondratieff sieht in seiner umfassenden Wirtschaftstheorie dafür einen ganz anderen Hintergrund: Wenn die Wirtschaft sich wegen der massiven Produktivitätssteigerung wieder beschleunigt, braucht sie mehr Gold für den Zahlungsverkehr. Der Goldpreis steigt mit der Nachfrage. Jetzt wird es auch wieder rentabler, neue Goldfelder zu erschließen. Und die Techniken senken die Förderkosten und machen es wirtschaftlich, die bekannten Goldadern auszubeuten.17

      Wie in jedem Kondratieff schwingt sich dann die Globalisierung zu neuen Höhen auf: Der Welthandel wächst zwischen 1840 und 1870 um 260 Prozent.18 Richard Cobden (1804 - 1865) ist der führende Lobbyist, der dafür sorgt, dass England keine Zölle mehr auf ausländische Waren erhebt. Die führende Wirtschaftsmacht überzeugt auch die anderen Länder von den Vorteilen des freien Welthandels, wobei sie ihnen zum Teil großzügig Schutzzölle einräumt.

      England kann es sich leisten, denn wieder führt es den Strukturzyklus an: Nach der »railway mania«, dem Investitionsboom der 1830er, ist das Hauptnetz in den 1840ern bereits fertiggestellt und entfaltet eine wirtschaftliche Macht, die Paul Kennedy zusammenfasst19: Als das Vereinigte Königreich wahrscheinlich um 1860 seinen relativen Höhepunkt erreicht, produziert es 53 Prozent des weltweiten Eisens und 50 Prozent der Stein- und Braunkohle. Es verbraucht fast die Hälfte der ungesponnenen Baumwolle der Welt. Mit nur 2 Prozent der Weltbevölkerung und 10 Prozent der europäischen Bevölkerung hat das Vereinigte Königreich 40 – 45 Prozent des globalen und 55 – 60 Prozent des europäischen Produktionspotenzials. Es verbraucht fünfmal so viel moderne Energien aus Kohle und Öl wie die USA oder Preußen, sechsmal so viel wie Frankreich und 155-mal so viel wie Russland. Großbritannien alleine handelt ein Fünftel aller Güter der Welt und zwei Fünftel aller Industriegüter.

      Bei diesem Wohlstand, so Paul Kennedy, sei es kaum überraschend, dass die Briten in den 1860er und 1870er Jahren davon überzeugt sind, dass sie »mit der Anwendung der Prinzipien der klassischen Nationalökonomie das Geheimnis entdeckt« haben, das sowohl »zunehmende Prosperität als auch den Frieden in der Welt«20 garantiert – das meinen übrigens die Ökonomen im langen Aufschwung immer.

      Nach diesem Kondratieffzyklus, um 1880, stellt das Land mit 22,9 Prozent fast ein Viertel der Weltindustrieproduktion her – natürlich kann es sich ein gut ausgerüstetes Heer, eine große Flotte und ein Kolonialreich leisten. Aber noch mal: Die

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