Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler

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Die Geschichte der Zukunft - Erik Händeler

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hat, sondern weil sie die Strukturen des neuen Kondratieffzyklus und seiner Basisinnovation als Erste und mit Vorsprung erschlossen haben.

      Deswegen sind sie in dieser Zeit auch der weltweit führende Hersteller von Lokomotiven – die sind ebenso ein Exportschlager wie Schienen und sonstige Bahnausrüstungen. Großbritannien exportiert um 1850 jedes Jahr Waren im Wert von etwa 30 Millionen Pfund ins Ausland, um 1870 etwa 75 Millionen Pfund. Nie sind die englischen Exporte so stark gewachsen wie in den sieben Jahren von 1850 bis 1857 – jedes einzelne davon ist stärker als jedes andere Jahr davor oder danach in der Geschichte des Landes.21 Die Zinsen und Dividenden, die meist gleich wieder im Ausland investiert werden, summieren sich auf etwa 50 Millionen Pfund im Jahr.22

      Damit schwappt der Strukturzyklus auch in andere Länder: Die amerikanischen Eisenbahnen werden mit dem Geld gebaut, das zuvor in England verdient wurde. Die Reise von New York nach Chicago verkürzt sich von drei Wochen auf drei Tage.23 Das US-Netz wächst in den 1850ern und 1860ern um durchschnittlich 2000 Meilen jedes Jahr, in den frühen 1870ern sogar noch um 5000 Meilen.

       Deutschland krempelt seine Gesellschaft um

      Auch in der Bevölkerung regt sich Widerstand gegen das neue technologische System. Die schlesischen Weber in Peterswaldau protestieren im Hungerjahr 1844 weniger gegen ihre miserable Bezahlung. Sie haben vor allem Angst, ihre dürftige Einkommensquelle ganz zu verlieren, wenn die dampfgetriebenen Webstühle sie vollends arbeitslos machen. Sie können sich nicht vorstellen, dass eine boomende Textilindustrie viele zusätzliche Arbeitsplätze schafft – in der Infrastruktur, dem Transport von Tuch und Kohle, dass die Hallen und Maschinen gewartet werden müssen. Zugegeben: Bis dahin werden sie wohl verhungert sein, wenn ihnen beim Übergang von einem Strukturzyklus in den nächsten nichts und niemand hilft. Jedoch bessert es die eigene Lage nicht, Maschinen zu stürmen oder weiterhin für Hungerlöhne zu arbeiten. Der einzige Weg aus der Not ist damals wie heute, alles daranzusetzen, das nächste technologische Netz (hier das Netz der dampfgetriebenen Webstühle) so schnell wie nur irgend möglich zu erschließen.

      Doch niemand kann einem zu dieser Zeit genug Geld vorschießen, um längere Eisenbahnstrecken zu bauen. Nachdem den Christen im Mittelalter das Nehmen von Zinsen verboten war, fehlt es an Banken und Bankern. Anfang des 19. Jahrhunderts arbeiten vor allem Juden im Kreditwesen, weil ihnen seit dem Mittelalter die Zünfte (also nicht die gesichtslose Institution, sondern die Menschen dieser Handwerkszusammenschlüsse) die Mitarbeit in Handel und Gewerbe verweigert haben. 1846 sind in ganz Preußen nur 1100 Menschen in 442 Banken damit beschäftigt, Geld zu verleihen – in der Regel je ein Bankier und ein Gehilfe24. (Bis zur Jahrhundertwende steigt die Zahl auf 18.000 Beschäftigte an – sie verfünfzehnfacht sich, während die Bevölkerung nur um die Hälfte zunimmt.)

      Bis neue Aktienbanken mit immer ausgedehnteren Filialnetzen die Groschen der kleinen Leute für die Industrialisierung einsammeln, die zuvor nutzlos in Sparstrümpfen versteckt gewesen sind, muss der Widerstand des Staates überwunden werden. Im Vormärz25 versucht der preußische Finanzminister Christian von Rother mit allen Mitteln, Bank-AGs zu verhindern. Denn die paar persönlich haftenden Privatbankiers hat die Regierung bisher leicht unter Druck setzen können. Aber zahlreiche anonyme Aktiengroßbanken? Dazu kommt: Der Berliner Finanzbürokratie ist das liberale Rheinland, das sich mit der Industrialisierung so stürmisch entwickelt, immer suspekt gewesen. Das alte Preußen mit seinen konservativen ostelbischen Rittergutsbesitzern fürchtet zu Recht, die Industriellen könnten innenpolitisch die stärkere Kraft werden.

      Dafür geht es wenigstens im innerdeutschen Handel voran: 1834 tritt der Zollverein zwischen Preußen, Hessen-Darmstadt, Bayern und Württemberg in Kraft, dem sich in den nächsten Jahren die anderen Staaten anschließen – Bremen und Hamburg erst lange nach der 1871er-Reichsgründung 1888. Dass sie sich wirtschaftlich annähern, bedeutet nicht, dass sie sich gleichzeitig auch politisch angleichen: Der Zollverein hindert die deutschen Kleinstaaten nicht daran, 1866 an der Seite Österreichs gegen Preußen Krieg zu führen (ein Grund, heute die Europäische Union nach der wirtschaftlichen Einheit auch politisch weiter zu vertiefen).

      Technologisch bemühen sich die Deutschen zunächst vergeblich, eine eigene Lokomotive auf die Schiene zu bringen: Der Prototyp des Konstrukteurs Friedrich Kriegar in der Königlichen Eisengießerei in Berlin taugt 1815 nur dazu, ein bisschen auf dem Fabrikgelände herumzufahren, zu schwach und unzuverlässig ist er für den kommerziellen Eisenbahnverkehr26. Auch die von L. C. Althans konstruierte Lok benimmt sich bei der öffentlichen Erprobung 1822 nach zeitgenössischen Berichten »wie ein bockiges Pferd« und wird schließlich verschrottet. Für Deutschland heißt das: Ob es auf lange Zeit ein zurückgebliebenes Entwicklungsland ist oder bald wieder im Konzert der Mächte mitspielen kann, hängt von einer Schlüsseltechnologie aus dem Ausland ab. Für die erste Strecke von Nürnberg nach Fürth importiert man die Lokomotive samt Lokführer aus England.

      Jede Basisinnovation stößt zu ihrer Zeit auf Unverständnis und Widerstand: Grauen erfasst viele Deutsche beim Anblick des dampffauchenden Ungetüms mit seiner Wahnsinnsgeschwindigkeit von 35 Kilometern in der Stunde: »Die schnelle Bewegung muss bei den Reisenden unfehlbar eine Hirnkrankheit, eine besondere Art des Delirium Furiosum erzeugen«, soll das bayerische Obermedizinalkollegium angeblich in einem Gutachten gewarnt haben. Und wenn sich aber dennoch jemand in eine so »grässliche Gefahr« begeben wolle, dann müsse der Staat wenigstens die Zuschauer schützen, die schon vom Hinsehen dieselben Gehirnkrankheiten bekommen können – und zwar mit einem hohen Bretterzaun auf beiden Seiten. Prediger verteufeln die Bahn, weil, wenn Gott gewollt hätte, dass sich der Mensch auf Rädern fortbewege, dann hätte er ihm auch welche gegeben.

      Im ersten Jahrzehnt bis 1845 werden nur 2294 Kilometer gebaut – kaum genug, um eine Branche anhaltend zu beschäftigen, und selbst die Investitionen scheinen sich zunächst nicht genug zu rentieren, weil es zu wenig Gewerbe gibt, das die Eisenbahn nutzen kann. Die Krisenjahre in den 1840ern erklären Wirtschaftswissenschaftler mit »Überinvestition«. Die Kondratiefftheorie präzisiert, dass sich die technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systeme zwar parallel, aber nicht gleich schnell entwickeln und deswegen im Ungleichgewicht sind. Viele neu gegründete Betriebe sind in einer kritischen Lage, das Geschäft stagniert, das Geld ist knapp, es gibt wieder mehr Arbeitslose. Selbst der Lokomotivfabrikant Borsig muss in Berlin 400 Arbeiter entlassen. Kapital ist zwar billig, aber Prognosen für deutsche Verhältnisse zu optimistisch. Der Bau der Eisenbahn ist risikoreich (der Deutschen Bahn ergeht es beim Neubau der ICE-Strecken heute nicht anders): Niemand weiß vorher, wie teuer der Kauf der benötigten Flächen wird, da die Grundstückspreise explodieren, wenn durchsickert, wo die Trasse verlaufen wird. Auch die Bauarbeiten sind kaum zu kalkulieren, weil die Beschaffenheit des Geländes die Ingenieure immer wieder überrascht. Noch schwerer lässt sich abschätzen, wie viele Menschen später mit dieser Bahn fahren werden.

      Und dennoch setzen die fertiggestellten Eisenbahnen die gesellschaftlichen Strukturen europaweit unter Druck: Allein in Deutschland werden 1847 mehr als 1000 Kilometer Schienenstrecke neu fertiggestellt, ohne dass sich die wirtschaftlichen Gängeleien lockern. Der Revolution, die seit 1848 von Paris kommend auf ganz Europa übergreift, geht es daher vor allem um bürgerlich-wirtschaftliche Rechte wie Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, ja sogar um eine demokratische Staatsverfassung – also

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