Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler

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Die Geschichte der Zukunft - Erik Händeler

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Parlament darüber mitentscheiden zu können, wie Steuergelder für den Bau von Infrastruktur ausgegeben werden.

      Wie schon 1789 in Frankreich geht es nicht um Arbeiterinteressen wie »Mehr Lohn« oder dass Unternehmer in bessere Arbeitsbedingungen investieren sollen – dafür gibt es in Deutschland noch viel zu wenig Arbeiter. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. erlaubt zwar eine unabhängige Justiz, die Pressefreiheit und ein Vereinsrecht, doch er weigert sich, seine Truppen aus Berlin abzuziehen. Es kommt zu Barrikadenkämpfen mit 183 Toten. Der König gibt nach, entblößt die Hauptstadt von Truppen und verneigt sich vor den Märzgefallenen. Die bürgerliche Revolution scheint ihre Ziele erreicht zu haben – indem sie die Arbeiterschaft für sich instrumentalisiert, die noch gar nicht weiß, dass sie eigentlich noch ein paar ganz andere Interessen hat als ein Fabrikant, Professor oder Handwerksmeister.

      Am Ende gibt es zwar das erste demokratisch gewählte deutsche Parlament, aber keine Staatsgewalt, die seine Beschlüsse umsetzt – der preußische König lehnt die angebotene Kaiserkrone aus der Hand des pöbeligen Volkes ab. Das Parlament zerläuft sich, weil die Großbürger vor den immer radikaleren Forderungen der Arbeiter Angst bekommen. Als der Kaiser nicht kommt, gehen sie eben wieder brav nach Hause und vereinbaren mit ihren jeweiligen Monarchen einen unausgesprochenen Kuhhandel: keine Revolution mehr, dafür ab jetzt so richtig Bahn frei für exzessives Wirtschaften. Mit jedem weiteren Eisenbahnkilometer, der ab jetzt schnell gebaut wird, wachsen die Möglichkeiten, Waren zu kaufen, zu verarbeiten und zu verkaufen, entwickelt sich die Wirtschaft stürmisch. Bis 1855 werden in Deutschland weitere 6000 Kilometer Schienen gebaut, bis 1865 nochmals 6400 Kilometer. Und bis 1875 zum Höhepunkt des zweiten Kondratieffs kommen 13270 Kilometer hinzu.27

       Neue Märkte verschieben das Machtgleichgewicht

      Weil verschiedene Gesellschaften die Strukturen des neuen Kondratieffs unterschiedlich gut umsetzen, sind Länder wie Deutschland plötzlich zwei- bis dreimal so stark wie andere. Nach dem Wiener Kongress 1814/​15 waren die Karten zwischen den Ländern erst einmal verteilt gewesen. Der erste Kondratieffabschwung hat das »Konzert der Mächte« stabilisiert. Doch mit dem nächsten langen Kondratieffaufschwung verschieben sich die Gewichte – darin sieht Nikolai Kondratieff28 die Ursache von bewaffneten Auseinandersetzungen. In den Aufschwungjahren des zweiten Kondratieffs kommt es zu Kriegen, bei denen jene Länder militärisch geschlagen werden, die den neuen Strukturzyklus nur zögerlich erschließen: Ihnen fehlen bessere Stahlgeschütze, Nachrichtenverbindungen entlang der Bahn sowie Kapazitäten an Transport und an Fabriken, um Nachschub zu produzieren, Truppen auszurüsten und zu versorgen.

      Beispiel Krimkrieg 1853 – 1856: Die Russen fordern vom Osmanischen Reich, den orthodoxen Christen in Palästina Schutzrechte zuzugestehen; die Türken lehnen ab. Russland besetzt die Donaufürstentümer Moldau und Walachei, daraufhin erklärt die Türkei Russland den Krieg, den der »Kranke Mann am Bosporus« bald verlieren würde. Weil die Engländer nicht wollen, dass Russland so stark wird, schicken sie eine Expeditionsarmee – sie können sich das leisten. Die Franzosen träumen wieder davon, »Grande Nation« zu werden, und schließen sich den Briten ebenso an wie 15 000 Soldaten aus dem norditalienischen Staat Piemont-Sardinien, dem es weniger um die Türken geht als um seine eigene internationale Anerkennung.

      Der Ausgang der Kämpfe ist von vornherein klar: Während England im frühen 19. Jahrhundert seine Eisenproduktion verdreiunddreißigfacht, kann zum Beispiel Russland seine Eisenproduktion in dieser Zeit nur verdoppeln.29 Da aber die meisten Russen nach wie vor in der Landwirtschaft arbeiten, wird das, was sie herstellen – Agrarprodukte –, meist sofort verbraucht. Sie erwirtschaften kaum einen bleibenden Mehrwert, der investiert oder in militärische Kraft umgesetzt werden kann. Die russischen Holzschiffe sind den mit Schrapnellkanonen bewaffneten Dampf-Kriegsschiffen der Engländer hoffnungslos unterlegen.

      Vor allen Dingen haben die Engländer die Industriekapazität, schnell ein paar neue Kanonenboote zu bauen. Und die altmodischen Steinschlossmusketen der Russen, mit denen man vielleicht 80 Meter weit treffen kann, sind den zuverlässigeren Stahlgewehren der Alliierten unterlegen. 480.000 schlecht ausgebildete russische Bauernsöhne fallen. Der Krieg findet statt, weil ihn sich die Franzosen und Engländer im langen Aufschwung leisten können; aber wer ausgerechnet in der Hochphase der Konjunktur Kriegsanleihen ausgibt wie die französische Regierung, der konkurriert mit den Eisenbahnfirmen um Kapital und heizt die Preisspirale an. In Frankreich kommt es wegen der Inflation zu Volksaufständen.

      Der amerikanische Bürgerkrieg 1861 - 1865 ist ein Krieg zwischen zwei Wirtschaftsgebieten, deren Strukturen sich nicht mischen lassen und die unterschiedlich schnell wachsen: Im Norden produzieren 1860 schon 110.000 Fabriken, im plantagenbewirtschafteten Süden dagegen nur 18.000. Die gesamten Konföderierten stellen nur 36700 Tonnen Roheisen her – das ist eine winzige Menge im Vergleich zu Nordstaaten wie Pennsylvania, das alleine 580.000 Tonnen im Jahr produziert.30 Die Nordstaaten gewinnen – wegen ihres größeren industriellen Potenzials. Dänemark denkt, seine Staatskasse sei gefüllt genug, das von ihm regierte Schleswig-Holstein 1863 ganz zu annektieren – Preußen und Österreich besiegen die Dänen 1864 in einem kurzen Krieg. Den Machtkampf zwischen Österreich und Preußen im deutsch-deutschen Krieg 1866 hätte keine Seite in wirtschaftlicher Krisenzeit vom Zaun gebrochen.

      Die deutschen Staaten schlagen Frankreich 1870/​71, weil sie – das ist in diesem Strukturzyklus entscheidend – längere Bahnstrecken haben, die vor allem in Preußen nach militärischen Gesichtspunkten angelegt worden sind. Deutschlands Eisen- und Stahlproduktion überholt gerade die Frankreichs, seine Kohleförderung ist zweieinhalbmal so groß, sein Energieverbrauch ist um die Hälfte höher. Moltkes Strategie und die Kruppschen Stahlkanonen geben den entscheidenden Ausschlag. Danach bricht erst einmal für ein Vierteljahrhundert ein durch wirtschaftliche Erschöpfung erzwungener Friede aus.

       Gefragt sind neue Kompetenzen

      Der Sieg über Frankreich verdeutlicht, dass ein Kondratieffzyklus keine Aggregation makroökonomischer Daten, sondern ein Kompetenzzyklus ist. Das militärische System ist nicht von der Gesamtgesellschaft abgekoppelt: Das hohe Niveau der Grundschulbildung in Deutschland bringt mehr Facharbeiter, kompetente Unteroffiziere und ausreichend Schreibstubenkräfte hervor. Als Sieger der Schlacht bei Sedan gilt der preußische Schulmeister. Die Franzosen sind durch die Niederlage gezwungen, große Bereiche ihrer Gesellschaft – Erziehung, Verwaltung, Wirtschaft – zu überprüfen und zu reformieren. Nach 1871 schicken sie ihre besten Studenten nach Deutschland, um an den Universitäten des Feindes zu lernen.

      Jede Basisinnovation stellt eben neue Anforderungen an Menschen, wie Arbeit zu organisieren ist. Jeder Strukturzyklus hat daher seine eigenen betriebswirtschaftlichen Erfolgsmuster: Im zweiten Kondratieff lernen Manager, eine Großorganisation wie die Eisenbahn zu verwalten – mit gigantischer Kostenrechnung, Unterhalt von Bahnhöfen, Reparaturwerkstätten und Gleisanlagen. Sie lernen, Personal auf mehreren Kompetenzniveaus auszubilden, Investitionen langfristig abzuschreiben und unterschiedlichste Faktoren auf weite Sicht und pünktlich zu planen. Die Eisenbahn-Aktiengesellschaften sind die betriebswirtschaftliche Spielwiese für die Massenproduktion des dritten Kondratieffs. Entlang der Eisenbahnlinien verbreitet sich der elektrische Telegraf. Damit wird die Bahn nicht nur zum Transportmittel von Waren und Menschen, sondern auch von Informationen.

      Das beste Beispiel, ökonometrische Modelle ad absurdum zu führen, die einem weismachen wollen, die Wirtschaft würde wachsen, wenn man Geld oder Investitionen quer Beet über die gesamte Volkswirtschaft gießt, ist der steile Aufstieg von Unternehmern und Unternehmen der Branchen, die den neuen Kondratieffzyklus ermöglichen. Alfred Krupp hält schon 1832 überhaupt nichts von der Vorstellung, der Markt würde sich irgendwie zufällig entwickeln und sei völlig unvorhersehbar. Schon als Zwanzigjähriger ist er sich sicher, dass dem Gussstahl die Zukunft gehört und dass ihm niemand seinen Vorsprung wegnehmen kann, wenn er nur immer besser

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